Indien: Indigene Esskultur in Gefahr
4. Mai 2021Für Biskirin Marwein ist es eine der frühesten Kindheitserinnerungen, wie sie mit ihrer Mutter Pilze, Früchte und essbare Blätter sammeln ging - im üppigen Wald in der Nähe ihres Hauses, in den Khasi Hills im nordostindischen Bundesstaat Meghalaya.
"Manchmal sah ich einen Pilz und wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Meine Mutter brachte mir den Unterschied zwischen essbaren und giftigen Pilzen bei", erinnert sie sich.
Marwein, die dem indigenen Volk der Khasi angehört, ist inzwischen eine Gesundheitshelferin der Gemeinde. Und sie ist eine Art Vermittlerin zwischen ihrer Gemeinschaft und der North East Slow Food and Agrobiodiversity Society (NESFAS). Sie sammelt von den Dorfältesten traditionelles Wissen über Nutz- und Wildpflanzen und wirbt für deren Verwendung in der breiteren Öffentlichkeit.
Marwein sucht auch immer noch regelmäßig nach Wildpflanzen, beispielsweise Jatira und Jamyrdoh, für den Eigenbedarf oder den Verkauf im Dorf. Einiges pflanzt sie auch im eigenen Gemüsegarten an.
Aber die Nahrungssuche ist nicht mehr so ergiebig wie früher. "In meiner Kindheit gab es viele essbare Wildpflanzen im Wald. Jetzt gibt es viel weniger, weil es viel mehr Menschen in meinem Dorf gibt", so Marwein. Sie lebt in Mawlum Mawjahksew und ist nicht die Einzige, die diese Veränderung bemerkt.
In Nongtraw, einem Dorf etwa 75 Kilometer entfernt, hat man der Organisation NESFAS berichtet, dass es dort im Wald quasi kein Jatira mehr gibt. Auch Jamyrdoh und ein essbarer Farn namens Tyrkhang werden immer seltener.
Verlust der Artenvielfalt - Folgen für die Ernährung indigener Völker
Ein Teil des Problems, so Marwein, sei das Bevölkerungswachstum. Immer mehr Menschen suchen in immer weiter schrumpfenden Wäldern nach wild wachsenden Nahrungsmitteln.
Etwa21,6 Prozent der Gesamtfläche Indiens sind von Wald bedeckt und der hügelige und dicht bewaldete Nordosten des Landes - inklusive Meghalaya - ist ein Hotspot der Biodiversität.
Doch laut einer Studie des Indian Institute of Science aus dem Jahr 2017 ist in den letzten Jahrzehnten viel Wald durch Straßen- und Wohnungsbau sowie durch die Landwirtschaft verloren gegangen. Laut der Studie ist auch ein Viertel der gesamten Waldfläche Meghalayas besonders anfällig für den Klimawandel.
Zwar gibt es keine spezifischen Daten zu essbaren Pflanzen in Indien, aber ein Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2019 kommt zu dem Ergebnis: Bei 24 Prozent der wildwachsenden Nahrungsmittelpflanzen weltweit ist ein Rückgang zu verzeichnen. In Asien liegt diese Zahl sogar bei 46 Prozent. Wenn es immer weniger dieser Pflanzenarten gibt, verlieren diese Gemeinschaften eine wichtige Nahrungsquelle.
"Wilde, essbare Pflanzen spielen eine sehr wichtige Rolle in der Ernährung der indigenen Völker im Nordosten, besonders von März bis Mai, wenn die Ernte noch nicht reif ist - und in Zeiten der Not", sagt Bhogtoram Mawroh. Er arbeitet bei NESFAS im Bereich Agrobiodiversität und Agroforstwirtschaft. Das Phänomen ist Teil eines Musters, das sich auf der ganzen Welt wiederholt.
Die Ethnobotanikerin Selena Ahmed vom Food and Health Lab der Montana State University in den USA hat es untersucht. Sie wollte wissen, welche Rolle die immerweniger werdenden Wildkräuter für die Ernährung der indigenen Völker spielt - mitten im Klimawandel, der im westlichsten Bundesstaat von Montana zu beobachten ist.
"Unsere Interviews mit der Flathead Nation of the Confederated Salish and Kootenai Tribes zeigen, dass die befragten Haushalte eine geringere Verfügbarkeit von Wild, Fisch und essbaren Wildpflanzen wahrnehmen, während einige andere Arten aufgrund eines gestörten Ökosystems häufiger geworden sind", sagt sie.
Indigene Köstlichkeiten - zurück auf die Speisekarte
Doch der Rückgang der Wälder ist nicht der einzige Grund, warum traditionelle Lebensmittel durch kommerziell hergestellte ersetzt werden.
Seit den 1970er Jahren bringt das staatliche System zur Lebensmittelverteilung subventionierte Grundnahrungsmittel, wie weißen Reis und Weizenmehl, in Gemeinden, wo diese zuvor Luxus waren. Dagegen werden selbstgesammelte Nahrungsmittel wie Wildkräuter eher als Nahrung der Armen oder gar Tierfutter angesehen.
"Über die Jahre ist die Ernährung der Menschen homogenisiert worden, und es fehlen ihnen Mikronährstoffe", sagt Mawroh. "Wir wollen an die Lehren aus der Vergangenheit anknüpfen, Vielfalt in der Ernährung fördern und Wertschätzung für essbare Wildpflanzen schaffen."
In ganz Indien haben sich mehrere Initiativen gebildet, die genau das versuchen.
Das Start-up OOO Farms in Mumbai schafft eine Verbindung zwischen indigenen Bauern und städtischen Verbrauchern sowie Unternehmen wie dem Bombay Canteen. Das Restaurant bezieht jetzt Wildpflanzen aus den Bergen der Western Ghats, die es dort noch in Hülle und Fülle gibt.
NESFAS hat mittlerweile die Zusammenarbeitet mit Cafés in acht verschiedenen Dörfern in Meghalaya aufgenommen. Sie haben sich nun in Mei Ramew - in der Sprache der Khasianer "Mutter Erde" - umbenannt und indigene Speisen auf die Speisekarte gesetzt.
Hendri G Momin vom Volk der Garo betreibt das Café Aman A•song in Darechikgre, einem Dorf in den West Garo Hills in Meghalaya. "Die anderen Cafés hier servieren frittierte Speisen wie Donuts, Malpua und Puri, die aus raffiniertem Mehl hergestellt werden. Mein Café ist anders, weil ich mit wilden und biologisch angebauten Zutaten aus dem Wald und von lokalen Bauern koche", erzählt er stolz.
Serefer B Marak ist Stammgast im Aman A•song, wo er einen reichhaltigen, rubinroten Saft aus Tamarillo genießt. Die Frucht wächst an kleinen Bäumchen in den Garo Hills. "Ich bin zu faul, diese Lebensmittel zu Hause zuzubereiten, also esse ich sie nur im Café", sagt der 22-Jährige. Er fügt aber hinzu, dass er jetzt, da er auf den Geschmack gekommen ist, versuchen wird, sie selbst zu kochen.
Kultur- und Naturerbe für kommende Generationen
Um traditionelles Wissen am Leben zu erhalten, arbeitet NESFAS auch mit der nächsten Generation zusammen. Die Organisation bietet speziell für Kinder Wanderungen an und informiert über die Agrobiodiversität in den Khasi Hills. Mawroh ist überzeugt, dass das so gewonnene Wissen gut für ihre Gesundheit ist und auch die Tradition am Leben erhält.
"Auf diesen Wanderungen bringen wir ihnen bei, essbare Wildpflanzen zu erkennen und zu pflücken, die sie dann kochen und in ihren täglichen Speiseplan integrieren können", sagt er. "Das kann helfen, ihr Immunsystem zu stärken und verringert die Abhängigkeit von kommerziellen Lebensmitteln."