Indiens Antikorruptionspartei im Endspurt
1. April 2014Sanjay tunkt indisches Brot, "Chapati", in die Schüssel vor ihm. Darin, ein frisch zubereitetes Linsen-Gericht. Gleich muss er los. Sohn Subham sortiert Rollen von Plastikklebeband in einem Pappkarton, die der Vater einstecken wird. In der Luft liegt der Geruch von Chai Tee, den Mutter Meta gerade aufgesetzt hat. "Die Politiker lügen doch alle!", sagt Sanjay schmatzend, "für alles müssen einfache Leute wie ich Schmiergeld bezahlen. Für den Führerschein, Wasser oder sogar für ein medizinisches Attest habe ich schon Geld hingelegt."
Der 43-Jährige verdient als Motorrikschah-Fahrer umgerechnet etwa sieben Euro am Tag. Da schmerzen so genannten "Extraausgaben" besonders. Manchmal falle der Strom hier im Nordwesten Delhis für fünf Stunden aus, erklärt Sanjay. Dahinter stecke ein Netz korrupter Machenschaften. All das werde die Aam Admi Party, übersetzt die "Partei des einfachen Bürgers", ändern. Damit hierfür die nötigen Stimmen zusammen kommen, fährt Sanjay seit Monaten Wahlkampf mit seiner Rikschah: das Plakat auf den Rücken des Dreirads geklebt, zeigt jedem Fahrzeug hinter ihm, hier fährt einer, der die Korruption satt hat.
Freiwillige Unterstützer
Eine halbe Stunde später in der Parteizentrale. Schon von weitem sieht Sanjay die Männer mit den weißen Käppis vor den Toren campieren. Tausende kämen hier jeden Tag vorbei, die Tür sei immer offen, erzählt Mahesh, den Sanjay als erstes begrüßt. Der Rentner sitzt Tag ein Tag aus am Empfangstisch. "Hier den Namen, Adresse, Telefonnummer eintragen, kostet nichts", erklärt er gerade einem Neuankömmling, der sich nach einer Mitgliedschaft bei der AAP erkundigt. Zur Einstimmung bekommt dieser von Mahesh etwas Parteilektüre. "Swaraj" lautet der Titel des Buches. Für die Aam Admi Partei ist "Swaraj" eine Art Bibel. "Darin wird der Zustand beschrieben, in dem das indische Volk von korrupten Eliten und Politikern befreit ist und die Politik in den Händen der einfachen Menschen liegt", erklärt Mahesh. Schon Indiens Befreier und Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi hatte diese Vision, erklärt er. Die Partei gibt an, mit ihrer Philosophie seit ihrer Gründung im November 2012 immerhin über 12 Millionen Mitglieder gewonnen zu haben.
Das zeigt, dass ein gewichtiger Teil der Bevölkerung etwas gegen das alltägliche Übel der Korruption tun will. Vor allem die etablierten Parteien, Kongress und BJP, aber auch viele regionale Parteien stehen für ein jahrelanges System der korrupten Seilschaften. Immer wieder erschüttern große Schmiergeldskandale die Öffentlichkeit. Gegen zahlreiche Mitglieder des Parlaments laufen Gerichtsverfahren, auch wegen verschwundener Gelder. Die Aam Admi Partei, gewachsen aus der Antikorruptionsbewegung rund um den Bürgerrechtler Anna Hazare, will nun auf der politischen Bühne eine neue Zeit einläuten und tritt mit dieser Kampfansage und ihrem Anführer Arvind Kejriwal zu den nationalen Wahlen an.
Politische Realität
Ein Zimmer weiter hinter dem Empfangstisch der Parteizentrale stapeln sich Pappkartons: Käppis, Broschüren, Flugblätter - und neue Poster, die Sanjay später an seine Kollegen verteilen will. Immer wieder klingeln Mobiltelefone. Es ist einiges los, denn gleich wird eine der acht Kandidaten erwartet, die die Partei in Delhi ins Rennen schicken will: Rakhi Birla, Journalistin, 26 Jahre. Sie war Teil des Kabinetts im Landtag der Hauptstadt. Die Aam Admi Partei hatte im vergangenen November aus dem Nichts heraus die Regionalwahlen in Neu-Delhi für sich entschieden und musste sich das erste Mal in der politischen Realität beweisen.
Nach 49 Tagen allerdings zerbrach das Projekt. Der Grund: Der frisch gewählte Chief Minister Arvind Kejriwal wollte ein Antikorruptionsgesetz in Delhi durchsetzen, jedoch ohne Absprache mit der indischen Zentralregierung, die die Verfassung eigentlich vorsieht. Die großen Parteien, Kongress und BJP machten nicht mit. Kejriwal trat daraufhin in der Hauptstadt zurück, nur wenige Monate vor den landesweiten Wahlen, die am 7. April beginnen und fünf Wochen dauern. Das habe die Partei viele Stimmen gekostet, meint Anil Verma von der Nichtregierungsorganisation Association for Democratic Reforms (ADR), die in regelmäßigen Abständen die Prioritäten der Wähler erfragt. "Kejriwal setzt auf die Bedürfnisse des einfachen Bürgers, das verschafft ihm hier die Popularität. Aber innerhalb der Mittelklasse geht die Zustimmung für ihn leicht zurück. Viele Leute fragen sich, warum er gleich zurücktreten musste, und sich nicht einem Referendum gestellt hat."
"Er kämpft für unsere Rechte"
Verschrien als Populisten und Politik-Rebellen von Teilen der höheren Klasse, sehen das hier in der Parteizentrale die meisten anders. Der Rücktritt sei genau richtig, um als Partei, die das Ziel hat, die Korruption im Land zu bekämpfen, glaubwürdig zu bleiben und bei den bevorstehenden Parlamentswahlen zu gewinnen, meint auch die 23 Jährige Chanvi. Die Ökonomin hat für die Partei ihren Job aufgegeben und ist nun Vollzeit-Freiwillige, wie sie sagt. Ihre Eltern seien stolz auf sie, erklärt Chanvi, schließlich setze sie sich für ihr Land ein. Doch ihre Erwartungen an Kejriwal sind groß. "Heute können Frauen nach acht Uhr abends nicht mehr aus dem Haus gehen, aber sollte Kejriwal die Wahlen gewinnen, werden wir jederzeit vor die Tür treten können. Er kämpft nicht für Geld, sondern für unsere Rechte."
Ob naiver Idealismus oder eine ernst zu nehmende Gefahr für die etablierten Parteien, keiner wagt derzeit vorherzusagen, wie viele Stimmen die Partei am Ende bekommt. Fest steht, die "Partei des einfachen Bürgers" ist zum Sammelbecken all jener geworden, die sich gegen die etablierte Vetternwirtschaft und Korruption, wie sie auch Rikschahfahrer Sanjay jeden Tag erfährt, zur Wehr setzen wollen. Dieser hat mittlerweile die Rückbank seiner Rikschah voll beladen mit neuen Plakaten, die er an seine Kollegen verteilen will. "Die Aam Admi Partei wird Indien säubern und der Korruption den Kehraus machen", sagt er und steigt in seine Rickschah. Ein bisschen Zeit bleibt ihm noch bis in Delhi am 10. April gewählt wird.