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Politik

Indisch-chinesischer Grenzkonflikt aufgeflammt

17. Juni 2020

Die umstrittene Grenze zwischen Indien und China bleibt ein potentieller Krisenherd, wie die jüngsten Zusammenstöße zeigen. Beide Seiten wollen keine Eskalation, aber das Misstrauen ist groß.

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Indische Soldaten
Bild: picture-alliance/AA/F. Khan

Zum dritten Mal seit Anfang Mai ist es an umstrittenen Abschnitten der indisch-chinesischen Grenze (Line of Actual Control, LAC) zu handfesten physischen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten beider Seiten gekommen. Neben den Fäusten kamen auch Steine und Eisenstangen zum Einsatz. Anders als bei den Vorfällen Anfang Mai, bei denen es "nur" Verletzte gab, wurden jetzt Tote gemeldet, und zwar auf indischer Seite. Bei dem Zusammenstoß im Galwan-Tal im West-Sektor der Grenze am Montag kamen laut einer Erklärung der indischen Armee 20 Soldaten ums Leben. Hochrangige Abgesandte beider Seiten untersuchten derzeit den Vorfall an Ort und Stelle, um eine Entspannung der Lage zu erreichen, hieß es.

Reise nach Indien -  Ladakh
Auch der malerische Pangong-See im Himalaya ist zwischen Indien und China umstritten Bild: Eesha Kheny

Schuldzuweisungen

Der erste der jüngsten drei Zusammenstöße war am 5. Mai am Pangong-Tso-See in der Region Ladakh, der zweite am 9. Mai rund 1200 Kilometer weiter östlich am Nathu-La-Pass im indischen Staat Sikkim. Nach dem Vorfall am Montag wurden zunächst nur von chinesischer Seite Schuldzuweisungen geäußert. Indien habe den (bilateralen) "Konsens schwerwiegend verletzt und zweimal die Grenzlinie  überschritten sowie die chinesischen Streitkräfte provoziert und attackiert."

Auch im Mai hatte Peking Indien Grenzverletzungen vorgeworfen. Indien wiederum warf China vor, dass es normale Patrouillengänge der indischen Soldaten verhindern wolle. Beide Seiten bemühten sich zwar, die Zwischenfälle zu bagatellisieren, verstärkten jedoch ihre Truppen und brachten zusätzliche schwere Ausrüstung in die betroffenen Gebiete.

Infografik Karte Umstrittener Grenzverlauf zwischen Indien und China DE

Straßenbau und Kampfflugzeuge

Nach Ansicht von Experten könnten die zunehmenden Spannungen an der Grenze auf den Ausbau der grenznahen Infrastruktur durch Indien zurückzuführen sein. Seit etwa zehn Jahren baut Indien verstärkt Straßen und Landebahnen in den entlegenen Himalaya-Regionen in der Nähe der LAC.  

China fühle sich insbesondere durch den Bau einer weiteren Straße am zwischen beiden Seiten umstrittenen Pangong-Tso-See in der Region Ladakh provoziert. Das Projekt verbessert die Anbindung zu einer Landebahn, der höchsten weltweit, im indischen Galwan-Tal. Indien will mit dem modernen Straßennetz gleichziehen, das China auf seiner Seite der Grenze bereits vor Jahren gebaut hat. "Die Chinesen mögen die Infrastruktur nicht, die von Indien auf seiner Seite der Grenze gebaut wird, obwohl sie dasselbe auf ihrer Seite gemacht haben", sagt Srikanth Kondapalli, Professor für China-Studien an der Jawaharlal Nehru-Universität in Neu Delhi, gegenüber der DW. "Letzen Endes sagen sie: Wir dürfen unsere Infrastruktur verbessern, aber ihr nicht."

Dean Cheng von der amerikanischen "Heritage Foundation" bestätigt, dass die indischen Infrastruktur-Projekte in der Region Ladakh die Chinesen hätten misstrauisch werden lassen. "Das ist Teil des Problems. China sieht sich stets in der Position dessen, dem Unrecht geschieht."  Umgekehrt hätten Chinas militärische Aktivitäten in der Grenzregion auf indischer Seite zu Ängsten geführt. "Die Volksbefreiungsarmee fliegt von Zeit zu Zeit mit ihren Kampfflugzeugen über die Hochebene von Qinghai, was ein ziemlich provozierendes Verhalten darstellt. Peking kontrolliert damit nicht einfach nur seinen Luftraum, sondern sendet das Signal an die Welt aus: Dies sind kampfbereite bewaffnete Flugzeuge." 

Indien Jharkhand | Arbeiten an einer der höchsten Straßen der Welt
Straßenbau auf dem "Dach der Welt" ist oft Stein des Anstoßes zwischen den NachbarnBild: AFP/X. Galiana

Lange schwelender Konflikt

Die chinesische Position legte Long Xingchun von der Fremdsprachenuniversität Peking im Mai im parteinahen Blatt "Global Times" dar: "Indien hat in den vergangenen Tagen auf chinesischem Gebiet in der Region des Galwan-Tals illegale Verteidigungsanlagen errichtet. Damit ließ Indien den chinesischen Grenzschutztruppen keine andere Wahl, als mit den nötigen Schritten zu reagieren, und erhöhte damit das Risiko einer Eskalation und weiterer Konfrontationen zwischen beiden Seiten."

Die aktuellen Zusammenstöße an der indisch-chinesischen Grenze sind die schwerwiegendsten seit 2017. Damals standen sich mehrere hundert Soldaten beider Seiten 73 Tage lang auf der Hochebene von Doklam gegenüber, die zwischen dem indischen Verbündeten Bhutan und China umstritten ist. Anlass waren damals Straßenbauarbeiten der Chinesen, die Indien alarmiert hatten. Der Konflikt wurde schließlich auf diplomatischem Weg beigelegt.  

Niedrigschwellige militärische Auseinandersetzungen sind nichts Ungewöhnliches an der rund 3500 Kilometer langen indisch-chinesischen Grenze, die größtenteils umstritten und nicht völkerrechtlich verbindlich festgelegt ist. 1962 führten beide Seiten einen kurzen Krieg um die umstrittenen Gebiete im Westen und Osten der Grenze, der etwa 2000 Tote forderte.

China beansprucht im östlichen Grenzabschnitt weiterhin rund 90.000 Quadratkilometer, also etwa die Fläche Portugals, im indischen Staat Arunachal Pradesh. Das Gebiet ist in China informell  auch als "Süd-Tibet" bekannt. Im westlichen Grenzabschnitt beansprucht Indien seinerseits rund 38.000 Quadratkilometer der Hochebene von Aksai Chin in der Region Ladakh.

Infografik Karte Grenzen in Kaschmir DE
Die Neu-Organisation des indischen Teils von Kaschmir

Rivalität der Schwergewichte

Bei über einem Dutzend bilateralen Gesprächsrunden konnte bislang keine Annäherung im Grenzstreit erzielt werden. Seit den 70er Jahren gab es jedoch keine Feuergefechte mehr in diesem Konflikt.  Andererseits hat das wechselseitige Misstrauen zugenommen, nicht zuletzt wegen der intensiveren geopolitischen Rivalität der beiden Staaten mit Milliarden-Bevölkerungen. Auch der herausgehobene Status, den der Dalai Lama und seine Exil-Regierung in Indien genießen, und die engen Beziehungen Chinas zu Indiens Erz-Rivalen Pakistan, seit einigen Jahren verstärkt durch Xi Jinpings Belt and Road-Projekt, sind dabei wichtige Faktoren. 

Kenner der Region meinen, dass die staatliche Reorganisation des indischen Teils der Kaschmir-Region  durch die Regierung Modi zu den jüngsten Spannungen beigetragen habe. Derek Grossman von der Denkfabrik Rand Corporation sagte der DW: "Die einseitige Änderung des Status von Jammu und Kaschmir durch Modi 2019 wurde in Peking mit Befremden registriert. Es scheint so, dass China versucht, innerhalb dieses veränderten Umfelds entlang der 'Line of Actual Control' seine territorialen Ansprüche zu verteidigen."

Himalaya Grenze zwischen Indien und China Patrouille indischer Soldaten
Indische Soldaten auf Patrouille nahe der chinesischen GrenzeBild: Imago/Indiapicture

"Imagepflege für das chinesische Volk"

Jayadeva Ranade, Leiter des "Center for China Analysis and Strategy" in Neu Delhi, sieht dagegen innenpolitische Gründe für Chinas Verhalten. Seiner Einschätzung nach steht Präsident Xi Jinping "derzeit unter starkem Druck wegen seiner Fehler beim Ausbruch des Corona-Virus und bei den Maßnahmen zu dessen Eindämmung." Außerdem werde China die beiden von Xi Jinping ausgerufenen Jahrhundertziele "absehbar nicht erreichen", meint Ranade.

Damit ist zum einen das Ziel gemeint, China bis 2021, dem 100. Gründungsjahr der KCH, zu einem Land mit moderatem Wohlstand zu machen. Das andere Ziel bezieht sich auf 2049, wenn die Volksrepublik ihr hundertjähriges Bestehen feiert. Bis dahin soll China zur globalen Großmacht und zum modernen sozialistischen Industriestaat aufgestiegen sein. Die chinesische Führung sehe sich also gezwungen, ihr Image beim Volk aufzubessern. Dafür habe sie bewusst zum Mittel der Aggression gegen Indien gegriffen, so die Analyse des indischen China-Experten.

Srinivas Mazumdaru Redakteur und Reporter für Asien und Wirtschaft