Innenpolitische Situation in Israel immer dramatischer
27. März 2023In Israel spitzt sich die innenpolitische Krise im Zuge der umstrittenen Justizreform zu. Der Sender Kanal 12 berichtet, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe seine eigentlich für den Vormittag geplante Erklärung zu einem Stopp der Reform wegen Differenzen innerhalb der Regierungskoalition verschoben. Eine offizielle Bestätigung gibt es dazu bislang nicht. Zuvor hatte ein Vertreter von Netanjahus Regierungspartei Likud gesagt, der Ministerpräsident werde die Reform stoppen.
Netanjahus rechtsextremer Koalitionspartner Itamar Ben-Gvir forderte dagegen an den Plänen festzuhalten. Die Regierung dürfe nach den nächtlichen Massenprotesten nicht "vor der Anarchie kapitulieren", twitterte er. In Medienberichten heißt es ergänzend, mehrere Minister hätten mit ihrem Rücktritt gedroht, sollte Netanjahu die Justizreform canceln. Die religiös-nationalistische Koalitionsregierung überstand inzwischen allerdings im Parlament zwei Misstrauensanträge der Opposition, die aus Protest gegen die Reform eingereicht worden waren.
Eskaliert war die Situation in Israel durch die Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant wegen dessen Kritik an der Justizreform. Zehntausende Menschen strömten in der Nacht in Tel Aviv auf die Straße, um gegen die von Netanjahu angeordnete Entlassung und die Reformpläne seiner rechts-religiösen Regierung zu protestieren.
Nachdem dort am Samstag schon 200.000 Menschen zusammengeströmt waren, blockierten am Sonntagabend in Tel Aviv zahllose Demonstranten mit Israel-Fahnen die zentrale Straße nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Straßensperre neben Netanjahus Wohnhaus.
Histadrut droht mit Generalstreik
Universitäten verkündeten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise. Der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) drohte mit einem Generalstreik. Der Histadrut-Vorsitzende Arnon Bar-David erklärte an Netanjahu gerichtet: "Bringen Sie die Vernunft des Landes zurück. Wenn Sie nicht heute ankündigen, dass Sie Ihre Meinung geändert haben, werden wir streiken."
Der Gewerkschaftsverband vertritt mehr als 700.000 Beschäftigte in Gesundheits-, Verkehrs- und Bankwesen. Der Ausstand könnte große Teile der israelischen Wirtschaft lahmlegen. Israelische Medien berichteten, dass die Abflüge vom Tel Aviver Ben-Gurion International Airport bereits ausgesetzt worden seien. Auch die Häfen in Haifa und Aschdod teilten mit, dass bei ihnen die Arbeit bis zur Aussetzung der Justizreform ruhen werde.
Präsident Herzog: "Um der Einheit des israelischen Volkes willen..."
Der bisherige Verteidigungsminister Galant hatte die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit und insbesondere die Einsatzfähigkeit der Armee auf dem Spiel stehe. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede. Aus Protest gegen die Reform waren zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst erschienen.
Auch Israels Präsident Izchak Herzog hat die Regierung zum Einlenken aufgerufen. "Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen", ließ er am frühen Montagmorgen verlauten. Die Menschen seien in tiefer Angst.
Gegen die Justizreform, mit der der Einfluss des Höchsten Gerichts beschränkt und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt werden soll, gibt es seit Monaten heftige Proteste. Die Regierung wirft dem Höchsten Gericht unbotmäßige Einmischung in politische Entscheidungen vor. Künftig soll das Parlament mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können, so der Plan der rechts-religiösen Koalition. Und der Ministerpräsident soll stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr, manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur.
Bundesregierung: "Als enge Freunde Israels" in Sorge
Auch die deutsche Bundesregierung äußerte sich besorgt wegen der eskalierenden Auseinandersetzungen. Die eindrucksvollen Appelle des israelischen Staatspräsidenten Herzog müssten und würden sehr ernst genommen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. "Als enge Freunde Israels mischen wir uns natürlich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Staates ein, und trotzdem blicken wir natürlich mit Sorge auf das, was in den letzten Tagen und vor allem Stunden sich in Israel zuträgt", so Hebestreit weiter.
sti/AR/tl (afp, ap, dpa, rtr, kna)