Insektensterben - alles halb so schlimm?
10. August 2020Wie können wir die Insekten-Apokalypse aufhalten? Wie nur Bienen, Käfer und Co. retten? Was, wenn es schon zu spät ist? Und wie lässt sich das Dilemma unserer Landwirtschaft lösen: Monokulturen und Massentierhaltung, Pestizide und Herbizide? Was muss die Politik leisten? Und nicht zu vergessen: Welche Rolle spielt der Klimawandels bei all dem?
In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Untersuchungen und Studien, die die Entwicklungen der Anzahl, Häufigkeit, Artenvielfalt und Biomasse der Insekten untersucht haben. Fast alles deutete bislang auf einen dramatischen Rückgang der Arten hin - mit möglicherweise schweren Konsequenzen für die Ökosysteme - und am Ende eben auch uns Menschen.
Die meisten dieser Studien untersuchten allerdings Habitate in Europa, aus denen nicht auf den Zustand in anderen Regionen der Erde geschlossen werden kann.
Insekten in den USA
Doch ist die Insekten-Welt anderswo rosiger? Offenbar schon - zumindest wenn es nach einem internationalen Forscherteam geht. In den USA ist demnach kein Rückgang der Häufigkeit und der Artenvielfalt von Insekten und anderen Gliederfüßern zu beobachten, heißt es in einer Studie, die im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" veröffentlicht wurde.
Für diese Studie wertete das Forscherteam Daten aus mehr als 5300 Zeitreihen für Insekten und andere Gliederfüßer aus, die über vier bis 36 Jahre an verschiedenen Beobachtungsstandorten gesammelt wurden.
Für einige Arten und Standorte beobachteten sie Rückgänge in Vielfalt und Häufigkeit, bei wiederum anderen Zuwächse oder keine Veränderungen. Doch in der Summe, so die Autoren, "sind die Netto-Trends nicht von Null zu unterscheiden".
Damit unterscheiden sich die Resultate fundamental von denen anderer Studien, vor allem aus Europa - oder vielmehr: Sie widersprechen sich sogar. Denn hier war die allgemeine Annahme, dass die Zahl der Insekten dramatisch schrumpft.
Kritik an der Untersuchungsmethode
Forscher, die nicht an der Studie beteiligt waren, kritisieren indes deren Untersuchungsmethode.
Christoph Scherber etwa, Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie und multitrophische Interaktionen am Institut für Landschaftsökologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, hält die Studie für "kein gutes Beispiel wissenschaftlicher Praxis". So gebe es die in der Studie untersuchten LTER-Flächen (Long Term Ecological Research Sites) schon sehr lange und sie seien ursprünglich nicht dafür angelegt worden, um dort Insekten zu fangen.
"Die Studie wirkt so, als hätte man 'alles zusammengekratzt', was irgendwie nach Insekt klingt. Herausgekommen ist ein buntes Potpourri aus Mückenlarven, Krabbengängen, Heuschrecken in Keschern, Zecken auf dem Arm, Flusskrebsen, Stadtmoskitos und Insekten unter Steinen in Fließgewässern", sagt Scherber.
Bedrohte Arten unzulänglich berücksichtigt
Hierbei werde - doch dies betonen auch die Studienautoren selbst - die reine Häufigkeit bzw. Anzahl der Individuen einer Art von Gliederfüßern und Insekten mit deren Aktivität vermischt. "All diese Daten verschiedenster Quellen wurden über einen Kamm geschoren", so Scherber.
Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Für "hochproblematisch" hält auch Johannes Steidle, Leiter des Fachgebiets Chemische Ökologie am Institut für Biologie der Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Hohenheim, die Methodik der Metastudie.
Er findet es absurd, dass Studien zu Zecken, Winkerkrabben und Flusskrebsen in die Metaanalyse mit einbezogen werden. "Selbst Laien wissen inzwischen, dass Zecken und Krebse keine Insekten sind", sagt der Ökologe. Wer sich nun ertappt fühlt - keine Sorge, man lernt nie aus: Zecken gehören zu den Spinnentieren, Flusskrebse zu den Wirbellosen.
Hingegen würden Artengruppen wie Wildbienen, Schmetterlinge, Laufkäfer, Libellen und andere, bei denen in Europa aufgrund von zahlreichen Arbeiten - zum Beispiel auch den Roten Listen - bekannt ist, dass sie abnehmen, in der US-Studie kaum berücksichtigt.
"Wenn ich die Hypothese untersuchen würde, ob es in den USA ein vergleichbares Insektensterben gibt wie in Europa, würde ich mich sicher zunächst auf die Gruppen konzentrieren, bei denen ein Rückgang in Europa gezeigt wurde. Das haben die Autoren leider nicht getan," kritisiert Steidle.
Problematische Aussage
Untersuchungsmethode hin oder her - Steidle hält die Studie vor allem aus politischen Gründen für problematisch, da sie schon im Titel behaupte, dass es keinen Insektenrückgang gebe. An mehreren Stellen im Manuskript gewinne man den Eindruck, "die Autoren wollen genau die Grundaussage 'Es ist doch nicht so schlimm' stützen".
Genau diese Kernaussage empfindet auch Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als beunruhigend - "und auch, dass die Autoren schreiben, es sei beruhigend, dass die 'amerikanischen Gliederfüßer offensichtlich robust sind'. Anhand der Daten und Ergebnisse lassen sich solche starken Aussagen nicht treffen".
Sie verweist auf die Krefelder Insektenstudie, für die eine Gruppe von Insektenfreunden seit den 1980er Jahren die Menge an Insekten im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch verfolgt. Sie stellen Fallen auf, in die sich alle flugfähigen Insekten verirren können. Regelmäßig wiegen die Forscher ihre Beute. Über 24 Jahre, zwischen 1989 und 2013, hat die Biomasse, die sie fingen, um 78 Prozent abgenommen.
Im Gegensatz dazu "bringen die Autoren Daten von unterschiedlichen Gliederfüßern und unterschiedlichen Fangmethoden zusammen. Darunter Datensätze, die nur Mücken oder nur Zecken oder Blattläuse erfasst haben", sagt Klein - also Gruppen, die kaum oder gar nicht gefährdet sind oder von menschlichen Einflüssen profitieren.
Datensätze von Fluginsekten, die in den deutschen Studien untersucht wurden und starke Rückgängen aufwiesen, würden in der aktuellen Studie hingegen nicht betrachtet. Aussagen über den Zustand von Bienen, Nachtfaltern oder Schmetterlingen in den USA können durch diese Studie nicht gegeben werden, so Klein.
"Die aktuelle Studie aus den USA zeigt Rückgänge, Zunahmen und keine Veränderungen in Populationen verschiedener Organismen. Wenn dies alles zusammengefasst wird, ergibt das mathematisch 'Kein Netto-Rückgang bei Insekten in den USA'", sagt Klein.
Aber "ganz einfach gesprochen: Ich finde es persönlich schlimm, wenn wir immer mehr Mücken, Zecken und Blattläuse bekommen, aber meine liebsten Bienen- und Schmetterlingsarten kaum noch zu finden sind."
Keine Patentlösung
Doch es gibt nicht nur kritische Stimmen. Roel van Klink, wissenschaftlicher Mitarbeiter am sDiv-Synthesezentrum am deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, hält die Studie für "eine sehr solide Arbeit".
Die Autoren hätten eine enorme Menge Daten zusammengetragen, um die Entwicklung der Insektenpopulationen in den USA zu testen und sie verwenden einige der besten Monitoring-Programme der Welt, sagt van Klink.
"Für die meisten der von ihnen verwendeten Datensätze wurden jedes Jahr Daten gesammelt, im Gegensatz zu zum Beispiel der Krefelder Studie, bei der an jedem Standort im gesamten Zeitraum nur zwei oder drei Mal - an manchen nur einmal - gemessen wurde."
Für ihn steht die aktuelle Studie in keinem fundamentalen Widerspruch zu anderen Veröffentlichungen. Er betont vielmehr die Hauptbotschaft der aktuellen Studie: "dass sich die Trends in der Insektenhäufigkeit und -vielfalt von Ort zu Ort und von Art zu Art stark unterscheiden."
Dies stimme mit der globalen Analyse überein. Diese Studie macht deutlich, dass wir nicht von einem allgemeinen Insektenrückgang sprechen können, sagt van Klink. "Rückgänge sind standortspezifisch und haben daher wahrscheinlich unterschiedliche Ursachen."
Es werde keine Patentlösung geben, um den Insekten zu helfen. An jedem Standort müsse genau geschaut werden, ob es ein Problem gibt, was die Ursache ist und was dagegen getan werden könne, so der Forscher.
"Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir beginnen, den Rückgang der Insekten als das komplexe Problem zu behandeln, das es ist, und uns nicht auf Einzelstudien, Durchschnittswerte und Extrapolationen verlassen. Es sind über eine Million Insektenarten bekannt, und mindestens fünf Millionen Arten sind unbeschrieben. Jede dieser Arten hat ihre eigenen Bedürfnisse und Bedrohungen."
Insekten so zu behandeln als seien sie alle gleich, hält er "nicht nur für dumm, sondern auch gefährlich".
Insekten-Monitoring ist kompliziert
Und was ist nun mit der Insekten-Apokalypse? Der viel genutzte Begriff ist sicher überdramatisiert - sagt auch Axel Hochkirch, Professor für Naturschutzbiologie an der Universität Trier und Vorsitzender des IUCN SSC Invertebrate Conservation Committee. Dieser "stammt aber auch eher aus den Medien als aus der Wissenschaft", betont er.
"Dass zahlreiche Insektenarten weltweit gefährdet sind, ist - wie auch der Rückgang von früher häufigen Arten - unbestritten."
Doch dies bestätigen auch die Autoren der aktuellen Studie und weisen darauf hin, dass es zu starken Veränderungen der Artengemeinschaften und Ökosystem-Funktionen kommen kann.
Auch in Deutschland gibt es Verlierer und Gewinner des globalen Wandels. "Einige Arten, die früher auf den Roten Listen standen, zeigen plötzlich zunehmende Tendenzen, während andere zurückgehen", sagt Hochkirch. "Nur wenn wir die Hintergründe dieser Trends verstehen, können wir auch Maßnahmen ergreifen, um Arten zu schützen", weiß der Naturschutzbiologe.
Tatsächlich gebe es also auch immer wieder positive Nachrichten - teils auch als Folge von Naturschutzmaßnahmen. "Diese Form der Differenzierung wird in der öffentlichen Debatte leider häufig ausgeklammert, da die Sachverhalte nun mal komplexer sind als die einfache Message der 'Insekten-Apokalypse'."