"Geiselnahme spaltet Gesellschaft"
2. April 2015Deutsche Welle: Erst die Geiselnahme und die Ermordung eines Staatsanwalts, am darauffolgenden Tag dann der Angriff aufs Istanbuler Polizeipräsidium: Wie ordnen Sie diese Ereignisse in Hinblick auf die Parlamentswahlen am 7. Juni ein?
Ich mache mir Sorgen, eben weil diese Ereignisse zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem wir uns auf die Parlamentswahlen zu bewegen. Das Ziel der Aktivisten war es in Verhandlungen zu treten. Auf einmal endete die Geiselnahme aber mit dem Tod des Staatsanwaltes und der beiden Männer. Das wirft offene Fragen auf. Hätten die Verhandlungen denn nicht weitergeführt werden können? Schließlich bezogen sich die Forderungen auf einen Fall, der in dem Zuständigkeitsbereich dieses Staatsanwaltes lag.
An dieser Stelle möchte ich aber nochmal betonen: Diese Aktion kann man weder akzeptieren, befürworten, noch dafür Verständnis aufbringen. Das ist "Blut mit Blut vergelten". Die Ermordung des Staatsanwalts wird als schwarzer Tag in die Geschichte des Kampfes für mehr Demokratie eingehen.
Wie ist nun die Stimmung in der Türkei?
Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass die Geiselnahme und die Ermordung des Staatsanwalts auf Schärfste verurteilt werden müssen. Die Menschen sind aber in zwei Lager geteilt. Das eine Lager, die Anhänger der Regierungspartei AKP, meint, diese Ereignisse dienten dem Zweck die AKP und die Türkei zu destabilisieren.
Das andere Lager, die Regierungsgegner sagen, das seien Provokationen. Auf diese Art und Weise könne Erdogan jegliche Kritik an der Regierung als eine Gefahr abstempeln, die den Weg für Terror, Anarchie oder Chaos ebnet. Es wird im Zusammenhang mit dieser Geiselnahme unter anderem darüber gesprochen, dass der Geheimdienst bewusst zu locker gehandelt habe.
Was glauben Sie, könnten nun die Regierungspartei und die Opposition diese Geiselnahme für ihre politische Zwecke instrumentalisieren?
Was die Regierung davon hat, das hat am Tag nach dem Anschlag Ministerpräsident Davutoglu zur Sprache gebracht. Wie Sie wissen, wurde letzte Woche ein neues Sicherheitsgesetz verabschiedet, welches die Versammlungsfreiheit stark einschränkt. Als nun Davutoglu sagte, er werde von nun an keine unangemeldeten Demonstrationen mehr dulden, konnte man das als eine weitere Ausweitung dieses Sicherheitsgesetzes auffassen.
Ich hoffe, dass die Opposition diese Ereignisse nicht für ihre Zwecke instrumentalisieren wird. Denn so etwas darf man nicht instrumentalisieren. Das einzige, was die Opposition nun machen kann, ist, die näheren Umstände der Geiselnahme zu untersuchen und zu hinterfragen. Sie sollten Fragen nachgehen wie zum Beispiel: Hätte die Geiselnahme nicht friedlich beendet werden können? Welche Versäumnisse wurden seitens der Sicherheitskräfte gemacht?
Rechnen Sie mit Repressionen seitens der Regierung?
Das Sicherheitspaket wurde verabschiedet, um bestimmte Ziele zu erreichen. So ist es nun möglich, Proteste auf der Straße ganz schnell als Straftat einzustufen. Das versucht Davutoglu gerade zu erreichen. Ich denke, dass die Geiselnahme seine Pläne zumindest in den Augen seiner Wählerschaft legitimiert.
Ahmet Insel ist pensionierter Akademiker und schreibt eine wöchentliche Kolumne in der Zeitung "Cumhuriyet".