Der Schleier soll fallen
20. Oktober 2006Im Bewerbungsgespräch trug Aishah Azmi keinen Schleier. Bald darauf erschien die Hilfslehrerin komplett verhüllt im Klassenraum der Headfield Church of England-Schule im nordenglischen Dewsbury. Als sie sich weigerte, im Unterricht Gesicht zu zeigen, wurde Azmi suspendiert. Sie klagte vor dem Arbeitsgericht – und verlor in den entscheidenden Punkten. Die Richter sprachen ihr am Donenrstag (19.10.) zwar rund 1500 Euro Schmerzensgeld für verletzte Gefühle zu. Diskriminiert oder schikaniert worden sei die 24-Jährige aber nicht, so das Urteil. Ihr Fall sorgt in der Kontroverse um Integration und Abgrenzung international für Wirbel.
Muslime unter Belagerungszustand?
Den Anstoß gab vor zwei Wochen der britische Ex-Außenminister Jack Straw. Der ist inzwischen Parlamentspräsident und Kommunalpolitiker und bittet nach eigenen Angaben muslimische Bürgerinnen, in seiner Sprechstunde ihren Schleier – eine "sichtbare Bekundung der Abgrenzung" – abzulegen. Premierminister Tony Blair stimmt ein, der Schleier gebe "Menschen außerhalb der muslimischen Gesellschaft ein Gefühl von Unbehagen". Und das haben viele Briten 15 Monate nach den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn auch so, wenn es um die 1,8 Millionen Muslime im Land geht.
Der Muslimische Rat von Großbritannien ärgert sich, dass Äußerungen wie die von Straw und Blair nur den Islam-Kritikern in die Hände spielen würden. "Sie entzünden die Situation", sagt die Vorsitzende des Sozial- und Familienausschusses, Reefat Drabu. Dabei sei die "Schleier-Debatte" nur ein Nebenaspekt: "Wir haben größere Probleme, auf die wir uns konzentrieren sollten." Vor einem Monat rief der britische Innenminister John Reid muslimische Eltern dazu auf, ihre Söhne auf Zeichen von Radikalisierung hin zu kontrollieren und dies eventuell der Polizei zu melden. Nach dem Willen der Ministerin für Frauen und Gleichstellung, Ruth Kelly, sollen Universitätsprofessoren künftig ein Auge auf terroristische Tendenzen ihrer muslimischen Studenten haben. "Es fühlt sich an, als sei die ganze muslimische Gemeinschaft unter einem Belagerungszustand", sagt Reefat Drabu.
Trennung von Staat und Religion
Für viele Europäer hat die Frage der Verhüllung trotz allem eine symbolische Dimension: Inwieweit darf sich eine muslimische Frau im öffentlichen Amt durch das Tragen eines Kopftuches oder Schleiers abgrenzen? "Es geht nicht darum, was man anzieht", sagte der italienische Ministerpräsident Romano Prodi am Dienstag (17.10.), "sondern darum, ob man sich versteckt oder nicht". Frauen, die einen Schleier tragen wollten, würden selbstverständlich respektiert. "Aber das Gesicht zu bedecken ist falsch, es muss immer sichtbar sein, das ist wichtig in unserer Gesellschaft". Neidisch schauen Kritiker der Verschleierung nach Frankreich, wo Lehrer an staatlichen Schulen und Universitäten seit zwei Jahren keine Kopftücher mehr tragen dürfen. Dasselbe gilt aber auch für andere religiöse Symbole wie das Kruzifix.
In Deutschland ist die Entscheidung über ein Kopftuchverbot Ländersache. In Nordrhein-Westfalen gilt zum Beispiel seit dem laufenden Schuljahr ein Gesetz, dass Lehrern das Kopftuch verbietet, die jüdische Kippa oder christliche Ordenstrachten jedoch nicht betrifft. "Ich sehe im Kopftuch ein politisches Zeichen der Abschottung", sagte am Donnerstag (19.10.) die deutsche Staatsministerin für Integration, Maria Böhmer (CDU). "Tragen Mädchen und Frauen das Kopftuch unter Zwang, so wird es sogar zum Symbol der Unterdrückung."
Beiderseitige Verantwortung
Böhmer reagierte damit auf einen Aufruf türkischer Politikerinnen: "Kommt im Heute an, legt das Kopftuch ab". Mit Tony Blair wäre sie sich, was Schulen anbelangt, einig. "Aishah Azmi ist keinesfalls diskriminiert worden", sagt auch Muslimen-Sprecherin Reefat Drabu. "Privat dürfen wir alle tragen, was wir wollen. Aber im öffentlichen Dienst brauchen wir einen praktischeren Ansatz."
Aisha Azmi sieht das anders. Notfalls will sie bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. "Wir drängen sie zu überdenken, was das für Auswirkungen haben könnte", sagt Drabu. "Azmi hat eine Verantwortung für die Gesellschaft und für die anderen Muslime in Großbritannien." Dasselbe gelte aber für die britische Regierung: "Sie hat die Verantwortung, die Vorurteile gegen Muslime nicht weiter anzupeitschen."