Interview mit Valentina Lisitsa
19. November 2013Valentina Lisitsa: "Wollte mein Publikum finden"
DW: Valentina, Sie spielen in der Kölner Philharmonie ein Programm mit Werken von Chopin, Rachmaninov und Liszt. Die zweite Variante, die Sie auf facebook angeboten haben - Schumann, Skrjabin, Schostakowitsch - ist nicht so gut angekommen?
Valentina Lisitsa: Man hat sich mit 75% der Stimmen eben für die erste Variante ausgesprochen. Die Ergebnisse dieser Abstimmungen sind für mich jedes Mal eine Überraschung: Man weiß nie, wie das Publikum sich entscheidet. Aber wenn Menschen ins Restaurant gehen, können Sie auch à la carte wählen, was sie gerne essen möchten.
Als sie 2007 ihr erstes Video - eine Etüde von Rachmaninov, gedreht mit einer verwackelten Kamera und gespielt auf einem ziemlich verstimmten Klavier - auf YouTube hochgeladen haben, was wollten Sie eigentlich damit erreichen?
Ich habe als Jugendliche halbprofessionell Schach gespielt. Und nach der Partie war es üblich, das Spiel zu analysieren: "Ich habe diesen Zug gemacht, weil…". Ich kann auch bezüglich meines ersten YouTube-Auftrittes alle möglichen Theorien jetzt im Nachhinein entwickeln. Aber eigentlich wollte ich schlicht mein Publikum finden.
Abertausende von jungen Musikern laden tagtäglich Tausende von Videos auf YouTube und andere Plattformen im Internet hoch in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Warum war ausgerechnet Ihnen ein solcher Erfolg gegönnt?
Ach, wenn ich das nur wüsste! (lacht) Im Ernst: Ich glaube, ich habe das gewisse Etwas - vielleicht eine Art Emotionalität, die die Menschen anspricht. Ich würde von mir sagen, ich bin nicht ganz "normal". Und dann noch etwas: Ich wollte eigentlich keinem gefallen. Ich wollte nur zeigen, wer ich bin. Vielleicht wird es einer merken. Und es haben einige gemerkt.
War YouTube für Sie der einzige Weg, sich zu produzieren?
Bestimmt nicht. Die Sache ist aber eine andere: Das allgemeine Niveau der Künstler ist in den letzten 100, 150 Jahren unglaublich gestiegen. Nur ein Beispiel: Als Tschaikowski sein 1. Klavierkonzert geschrieben hatte, sagte ein so großer Musiker wie Hans von Bülow: "Was soll es! Es ist doch unspielbar!" Heute spielt jeder Erstsemestler dieses Konzert. Aber das Publikum - quantitativ wie qualitativ - ist das gleiche geblieben. Und erst jetzt, mit YouTube, erleben wir eine Art Explosion. Eine ganze Generation junger Leute weltweit entdeckt für sich klassische Musik. Das passiert dank YouTube und auch anderer sozialer Netzwerke wie facebook. Das kann ich sehr deutlich sehen. Und ich weiß ganz genau - auch nach dem heutigen Konzert werden einige junge Menschen auf mich zukommen und sagen, es wäre das erste klassische Konzert gewesen, das sie je besucht hätten. Und das haben sie mir - und YouTube zu verdanken!
Und man erkennt diese Menschen in den Konzerten?
Ja, viele von ihnen wissen noch nicht so genau, wie sie sich benehmen müssen, wann sie klatschen müssen und so weiter. Diese ganzen Konzertrituale, die das gestandene Konzertpublikum über Generationen hinweg gepflegt hat, sind ihnen nicht vertraut. Man muss aber solche Leute willkommen heißen und nicht wie Außerirdische angucken. Und auch nicht zischen, wenn einer von ihnen - oh Schreck! - etwa sein Handy aus der Tasche zieht. Stellen sie sich doch mal vor, was es ihn an Überwindung gekostet hat, überhaupt hierher zu kommen!
Apropos Konzert: Ihre Videos sind über 62 Millionen Mal angeklickt worden, ihr Kanal auf YouTube hat über Hunderttausend Abonnenten. Jeden Tag spielen Sie damit vor mindestens 50.000 Menschen - das sind umgerechnet ca. 50 mittelgroße Konzertsäle oder ein ganzes Fußballstadion. Warum macht dann so ein "erster Klassikstar der virtuellen Welt" einen Sprung ins "offline"?
Weil nichts auf der Welt das Erlebnis eines Live-Konzertes ersetzt! Die Musik entsteht in jenem magischen Moment, wo es in der Halle still wird und wir alle, der Künstler und das Publikum, uns gemeinsam in eine ganz andere Dimension versetzen. Dieses Gefühl kann keine Aufnahme und kein Video dieser Welt transportieren.
Also, ist für Sie YouTube eine Art Werbung?
Ja, das ist eine Art Hochglanzbroschüre. Mein eigentliches Ziel ist es, das Publikum in die Konzertsäle zu bekommen. Alles andere ist sinnlos. Wissen sie, wie einer meiner großen Vorbilder, der Pianist Wladimir Sofronizki, seine großartigen Studioaufnahmen nannte? "Meine kleinen Leichen". Das trifft den Sinn der Sache ganz genau.
Ihre Fans sitzen aber gemütlich an ihren PCs weltweit - in einem chinesischen oder lateinamerikanischen Städtchen etwa oder in einem sibirischen oder deutschen Dorf. Meinen Sie, dass sie sich eine Reise zu ihrem Konzert antun?
Unterschätzen Sie die Reiselust der Menschen nicht! Bei meinem ersten Live-Konzert in der Londoner Albert-Hall wollte die BBC unbedingt jemanden der extra angereisten Fans interviewen. Ich habe meine Gemeinde "angetwittert" mit der Frage, wer zur Verfügung stehen würde. Es haben sich 138 Personen aus 30 Ländern gemeldet - darunter auch aus so exotischen wie etwa Granada. Nicht schlecht, oder?
Sie werden manchmal als "Gegenentwurf" zur Musikindustrie angesehen. Dabei sind Sie eigentlich ein Teil davon.
Industrie ist so gesehen nichts Schlechtes - auch wenn das Wort an sich nicht angenehm klingt. Ein Gegenentwurf bin ich dennoch. Denn wie wird ein "Star" heute gemacht? Jemand entscheidet, der oder die ist es. Dann werden sie als Konsument erst mit Berichten in der Presse bombardiert. Dann erscheinen die Aufnahmen, die sie unter diesem Medieneinfluss kaufen. Und erst dann, nach dieser "Gehirnwäsche", gehen sie ins Konzert und vielleicht berichten Sie auch Ihren Freunden, ob es ihnen gut gefallen hat. Bei mir war der Weg umgekehrt, sozusagen von unten nach oben.
Sie sind in Kiew geboren und erfuhren auch dort Ihre Ausbildung. Damit sind Sie ein Produkt der so genannten "russischen" beziehungsweise sowjetischen Klavierschule, von der oft berichtet wird, es wäre eine gnadenlose Kaderschmiede…
Für mich ist es keine Schule im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern eine Fließbandproduktion. Ich war 3 Jahre und 8 Monate alt, als ich mit dem Klavierunterricht anfing. Wenn ich hier im Westen darüber erzähle, wird es den Menschen schwindelig. Dabei war ich in diesem zarten Alter bereits beim Ballett, Schwimmen und Eiskunstlauf mangels Talent aussortiert worden.
Das hört sich nach einer harten Kindheit an.
An meine Kindheit denke ich heute mit Humor zurück. Meine Eltern wollten unbedingt, dass aus ihrem Kind etwas wird. Als ich 3 Jahre alt war, nahm mich meine Mama an die Hand und brachte mich zu einer berühmten Ballettpädagogin. Diese schaute mich nur kurz an und sagte zu meiner Mutter: "Und sie wollen, Gnädige, dass dieses Fohlen Ballett tanzt? Man sieht schon jetzt, wie groß sie wird! Wie soll ein Tanzpartner so ein Pferd tragen?"
Waren sie traurig?
Sehr. Ich träumte zuvor, eine Ballerina zu werden. Dann kam das Schwimmen. Dann Eiskunstlaufen. Und erst dann die Musik. Und da klappte irgendwie alles.
Die unzähligen Wettbewerbe, an denen ich teilnehmen musste, waren für mich schon eine harte Schule. Dennoch denke ich, dass dieses System ein ehrlicheres und irgendwo auch ein humaneres war.
Wieso?
Hier im Westen hätte keiner zu meiner Mutter gesagt: "Ihre Tochter wird nie Ballett tanzen!" Man hätte gesagt: "Natürlich! Sie soll es mal versuchen." Ich kenne so viele, die mit diesem permanenten Anfüttern mit Lob - nach dem Motto "Ja, ja, es ist schon besser" - sich über Jahre hinweg etwas vormachen, bis man tatsächlich vor einer Mauer steht. Dann kommt aber eine richtige Krise und der Zusammenbruch. Da finde ich schon besser gleich zu sagen: "Du wirst nie eine Tänzerin. Versuche es lieber mit etwas anderem!"
Ich Sohn ist jetzt 8. Macht er es Ihnen nach?
Nein. (lacht) Mein Sohn wird zu gar nichts gezwungen. Er besucht nicht einmal eine Schule, sondern wird zu Hause unterrichtet.