Iranische Gesundheitsexperten contra Regierung
30. September 2020"Wir müssen uns auf die dritte Welle der Corona-Pandemie einstellen", warnte vor einer Woche der stellvertretende iranische Gesundheitsminister Iradsch Harirtschi in einer Kabinettssitzung. Laut offiziellen Angaben wurden in den vergangenen zehn Tagen im Durchschnitt täglich 3500 Neuinfektionen und bis zu 200 Verstorbene im Zusammenhang mit COVID-19 registriert. Dabei glaubt kaum jemand im Iran, dass die offiziellen Angaben das wahre Ausmaß widerspiegeln.
Differenzen zwischen Krisenstab und Kabinett
Vor einem Monat hatte der Epidemiologe Aliresa Mahboubfar gegenüber der Wirtschaftszeitung "Dschahan Sanat" erklärt, dass die tatsächliche Anzahl der COVID-19-Erkrankten und der Todesfälle um das Zwanzigfache höher wäre als offiziell angegeben. Mahboubfars Wort hat Gewicht: Er gehört dem Corona-Krisenstab der iranischen Regierung an. "Die Zahlen werden nach unten korrigiert, vor allem weil man die Bürger beruhigen will. Aber so werden wir aus der Pandemie nicht herauskommen", prophezeite der Experte. "Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Krisenstab und dem Kabinett sind ernst. Ich glaube, wir müssen die Menschen aufklären."
Einen Tag nach der Veröffentlichung dieses Interviews unter dem Titel "Wir vertrauen keinen Regierungsstatistiken" wurde die Wirtschaftszeitung von den Behörden geschlossen. Gleichzeitig bestritt das Gesundheitsministerium, das die Zeitung verklagt hatte, sogar die Mitgliedschaft des in iranischen Medien häufig zitierten Epidemiologen Mahboubfar im Corona-Krisenstab.
Krankenhäuser am Limit
Fünf Wochen später warnen jetzt Experten vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. "Für uns geht es nicht mehr um eine zweite oder dritte Welle. Wir stecken in einer Dauerpandemie und haben einen harten Kampf vor uns", sagte Abbasali Karimi, Leiter der Teheran-Universität für Medizinische Wissenschaften und Gesundheitsdienste erst am Dienstag (29.09.) vor seinen Studenten.
"Viele Krankenhäuser haben ihre Aufnahmekapazitäten erschöpft", bestätigt der Arzt Hadi Yazdani aus Isfahan im Gespräch mit der DW. "Ich weiß, dass viele Patienten nicht aufgenommen und einfach nach Hause geschickt werden. Sie tauchen in den Statistiken nicht auf."
Seit Juni berichten die iranischen Medien immer wieder von verzweifelten Menschen, die Kredite aufnehmen müssen, um in privaten Krankenhäusern doch noch einen Platz für erkrankte Familienmitglieder zu bekommen. Anfang August forderte der Abgeordnete Mohsen Fathi, der im Gesundheitsausschuss sitzt, dass die Regierung bedürftige Haushalte in der Gesundheitskrise finanziell stärker unterstützen solle.
Teure Medikamente
Die Probleme für den ärmeren Teil der Bevölkerung werden noch dadurch verstärkt, dass die staatliche Krankenversicherung viele Kosten nicht übernimmt. So müssen anti-virale Medikamente wie Remdesivir oder Favipiravir - letzteres ist das das chinesische Nachahmerpräparat des japanischen Mittels Avigan - aus eigener Tasche bezahlt werden. Für sie hat sich im Iran ein florierender Schwarzmarkt entwickelt, wie lokale Medien berichten und auch Hadi Yazdani bestätigt.
"Trotz der Berichte über die Wirksamkeit dieser Medikamente am Anfang der Pandemie wurden sie von der Liste des Corona-Krisenstabs zur Behandlung der Corona-Patienten entfernt. Ich glaube, weil diese Medikamente weder in genügender Menge importiert noch im Iran produziert werden können", vermutet der Arzt Yazdani im Gespräch mit der DW und fügt hinzu: "Ich weiß aber, dass manche Krankenhäuser immer noch Favipiravir einsetzten. Soweit ich weiß, aber nur für bestimmte Patienten."
Politiker bevorzugt?
Bei diesen "bestimmte Patienten" handele es sich um Politiker und Patienten aus einflussreichen Kreisen, erklärte der ehemalige Abgeordnete Mahmoud Sadeghi diese Woche im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ILNA. "20.000 Favipiravir-Tabletten, die China dem Iran geschenkt hat, wurden heimlich importiert und für die Behandlung hochrangiger Funktionäre eingesetzt", behauptete Sadeghi.
Favipiravir habe keine positive Wirkung und verschlimmere sogar die Krankheit, erklärt dagegen Ende Juli der Leiter des Corona-Krisenstabs, Mostafa Ghanei. Tatsächlich wird Avigan bereits in Japan und vielen anderen Ländern als Notfall-Medikament bei einer schweren COVID-19 Erkrankung benutzt. In Deutschland ist das Medikament mit starken Nebenwirkungen bislang nicht zugelassen.
Nicht nur Medikamente, offenbar auch Impfstoffe werden zuerst für Politiker reserviert. In einem offenen Brief an Vizepräsident Eshaq Dschahangiri beschwerte sich der Leiter der Zulassungsbehörde für die Angehörigen der Gesundheitsberufe im Iran, Abbas Aghazadeh, dass, wie iranische Medien berichtet hatten, 1500 Grippe-Impfdosen für die Parlamentarier reserviert wurden, die woanders fehlen würden. Das iranische Parlament hat 290 Abgeordnete.