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PolitikEuropa

IS-Mitglieder: Franzosen bangen um ihre Angehörigen

Lisa Louis Paris
23. Juli 2020

Die Familien von Franzosen, die sich in Syrien und dem Irak der Terrormiliz IS angeschlossen haben, kämpfen dafür, ihre Angehörigen zurückzuholen - umso mehr, seitdem Dutzende Frauen und Kinder vor Ort verschwunden sind.

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Ein leerer Kinderwagen steht im Schlamm vor einem regennassen Zelt
Ein Zelt im Al-Haw-Camp: Hier sollen zahlreiche französische Staatsbürger verschwunden seinBild: privat

Antoine* ist keiner, der sich so leicht unterkriegen lässt. Der Gewerkschafter hat Jahrzehnte die Rechte der Arbeiter verteidigt. Doch als vor fünf Jahren seine Tochter M. auf einmal zum sogenannten Islamischen Staat (IS) ging, brach für ihn eine Welt zusammen.

"Als ich die Nachricht bekam, dass sie im irakischen Mosul ist, war es so, als stürzte mein Haus über mir zusammen," sagte er der DW. "So etwas hätten wir nie gedacht. Sie war immer gut in der Schule. Ich sagte zu ihr - 'weißt Du überhaupt, worauf Du Dich da einlässt und was Salafismus bedeutet'?"

Die 26-Jährige war zum Islam konvertiert, ohne ihren Eltern davon zu erzählen - beide sind Agnostiker. Als sie sah, wie ihr französisch-tunesischer Freund Diskriminierung erfuhr, keinen Job als Elektriker fand, entschied sie, mit ihm in den Irak zu gehen. Um ihre Religion "frei auszuüben".

IS-Geschichte I Antoine
Antoine: "Sie hat das Recht auf eine faire Gerichtsverhandlung, wie wir alle."Bild: DW/L. Louis

Laut Schätzungen haben sich über die Jahre rund 1700 Franzosen und Französinnen der Terrormiliz Islamischer Staat vor Ort angeschlossen. Sie machen die die größte Gruppe unter den 5000 Westeuropäern aus, die in den Irak und nach Syrien gegangen sind. Heute befinden sich etwa 1000 von ihnen in kurdischen Gefängnissen und Camps. Auch dort machen Franzosen die größte Gruppe aus - mit rund 300 Frauen und Kindern in den Camps und 75 Männern in den Gefängnissen.

Dutzende Frauen und Kinder sind spurlos verschwunden

Zuhause in Frankreich versuchen deren Familien, den Staat dazu zu bringen, sie zurückzuführen, und zwar umso verzweifelter, seit vor fünf Wochen Dutzende ihrer Angehörigen aus dem nordsyrischen Al-Hawl-Camp verschwunden sind. Sie sollen von ihren Zelten weggeführt worden sein, um registriert zu werden, hatten die Familien gehört: M., gemeinsam mit ihrem 18-monatigen Sohn, den sie in Syrien bekommen hat, war Teil dieser Gruppe. Bis dahin telefonierte ihr Vater täglich mit ihr. 

Ein Kleinkind schaut in die Kamera
Antoine will, dass sein Enkel und seine Tochter zurück nach Frankreich kommen könnenBild: privat

"Meistens schaffe ich es, mich zusammenzureißen. Trotzdem schlafe ich nachts kaum. Ich gucke immer und immer wieder die Videos von meinem Enkel an," erzählt er. Wie alle Familienmitglieder derer, die sich der Terrormiliz angeschlossen haben und mit denen die DW gesprochen hat, sagt Antoine, er wisse nicht, was genau seine Tochter in Syrien gemacht hat.

"Wir schaffen ein zweites Guantanamo"

"Aber ich bin nicht ihr Richter", hebt er hervor. "Sie muss gerade stehen für ihre Taten und hat das Recht auf eine faire Gerichtsverhandlung, wie wir alle. Das ist der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur. Aber wir schaffen dort gerade ein zweites Guantanamo!"

In seiner Notlage hat sich Antoine mit etwa 100 anderen Familien von IS-Mitgliedern zusammengetan - im Verein "Familles Unies" - "Vereinte Familien". Auch Catherine** gehört zu diesem Verein. Ihre damals 20-jährige Tochter zog 2015 nach Syrien. Catherine ist besonders schockiert darüber, wie Frankreich seine Kinder behandelt.

"Warum macht sich Frankreich überhaupt die Mühe, internationale Konventionen für die Rechte von Kindern zu unterzeichnen, wenn das Land sie dann in diesen Camps verrotten lässt?", sagt sie der DW. "Die Lebensbedingungen dort sind schrecklich. Es ist unhygienisch und es gibt kaum ärztliche Versorgung. In den Zelten ist es entweder schrecklich heiß oder schrecklich kalt. Oft werden sie bei Stürmen überflutet."

IS-Geschichte I Catherine
Auch Catherine will ihre Tochter nach Hause holenBild: privat

Auch ihre Tochter, katholisch aufgewachsen, war damals zum Islam übergetreten. Ihre Mutter erinnert sich, dass sie mit Syrerinnen telefonierte. Aber was genau sie schließlich dazu brachte, nach Syrien zu gehen, weiß Catherine nicht. In Syrien heiratete die Tochter und bekam einen Sohn, der jetzt dreieinhalb Jahre alt ist. Vor etwa fünf Monaten verschwanden beide aus dem Al-Hawl-Camp. Wahrscheinlich wurden sie in ein Gefängnis gebracht, glaubt Catherine.

Zu dem Zeitpunkt verlor Catherine den Kontakt - auch sie hatte vorher täglich mit ihrer Tochter gesprochen. "Ich fühle mich total alleine gelassen von der Regierung. Sie tun so, als gebe es diese Menschen nicht - aber es gibt sie!", fügt sie hinzu.

Frankreich holt Kinder zurück - ohne Eltern

Doch die Regierung sagt, sie halte sich an internationales Recht. Frankreich hat bisher rund 30 Kinder aus den Camps zurück nach Frankreich geholt, jedoch keine Frauen und Männer. Etwa 200 Männer und Frauen hat die Türkei zudem nach Frankreich ausgewiesen - gemäß einem bilateralen Abkommen.

"Menschen müssen dort vor Gericht kommen, wo sie Straftaten begangen haben", sagt Raphaël Gauvin, Parlamentarier der Regierungspartei LREM, zur DW. "Und Kinder führen wir zurück, wenn die Mütter es akzeptieren, sie uns zu übergeben."

Damit richtet sich die Regierung nach der öffentlichen Meinung: Laut einer Odoxa-Densung-Consulting-Umfrage von Februar 2019 sind 80 Prozent der Franzosen dafür, IS-Mitglieder im Irak und Syrien vor Gericht zu bringen.

"Frankreich ist besonders kaltherzig"

Doch die Anwältin Marie Dosé, die Familien 40 französischer Frauen in den Camps vertritt, sagt, dieser Ansatz entspreche nicht dem internationalen Recht. "Diese Menschen werden willkürlich festgehalten", erklärt sie der DW. "Und selbst wenn es dort Gerichte gäbe - ihre Vergehen haben in Frankreich angefangen. Sie sind hier angeklagt, einer Terrororganisation beigetreten zu sein und sollten hier vor Gericht kommen."

IS-Geschichte I Nordsyrien I Anwältin Marie Dosé
Marie Dosé ist Anwältin Bild: DW/L. Louis

Frankreich habe dabei unter westeuropäischen Ländern einen besonders kaltherzigen Ansatz, so Letta Tayler, Senior Researcher bei der NGO Human Rights Watch in New York. "Frankreich trennt pauschal die Kinder von den Eltern. Das Land hat im April ein kleines Mädchen rückgeführt, weil es einen Herzfehler hatte. Aber die Mutter hat man in Syrien zurückgelassen," sagt sie zu DW. "Das ist skrupellos. Diese Kinder sind schwer traumatisiert. Durch die Trennung fügt Frankreich ein weiteres Trauma hinzu."

Antoine und einige andere Familien sind inzwischen vor Gericht gezogen, um die Regierung dazu zu zwingen, die Franzosen nach Hause zu holen. Nächstes Jahr könnte die Sache vor den Europäischen Gerichtshof kommen.

Rückführung auch in Frankreichs Interesse?

Sara**, deren Bruder 2015 nach Syrien gegangen ist, versteht nicht, dass das Land das nicht schon längst getan hat – auch aus Eigeninteresse. Ihr Bruder ging nach Syrien, um "seinen muslimischen Brüdern zu helfen". Jetzt sitzt er dort im Gefängnis. Er hat zwei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen bekommen, die in kurdischen Camps sind.

IS-Geschichte I Sara
Saras Bruder ging auch zum sogenannten ISBild: privat

"In den Camps sind auch viele Menschen, die richtig gefährlich sind. Wir können sie nicht einfach da lassen!", meint sie. Vor kurzem sollen mehrere Frauen aus dem Camp geflohen sein, nachdem es zuvor angegriffen worden war. Mutmaßlich soll auch die Witwe von Amedy Coulibaly, der 2015 einen Anschlag auf den jüdischen Supermarkt Hypercacher in Paris verübt hat, dabei sein. "Solche Leute könnten sich jetzt wieder den Terroristen anschließen und neue Anschläge bei uns verüben. Das macht mir Angst!"

Catherine hingegen ist leise optimistisch. "Präsident Macron hat vor kurzem Eric Dupont-Moretti zum Justizminister ernannt," sagt sie. "Der hat sich wiederholt dafür ausgesprochen, französische IS-Mitglieder zurückzuführen. Wenn einer etwas bewegen kann, dann er!"

* Name von der Redaktion verändert

** Die Interviewpartner wollten nur ihren Vornamen nennen