Island - kein Fußball-Wunder
7. September 2015So ein rauschendes Fußballfest hat Island noch nie erlebt. "Strákarnir okkar " - "unsere Jungs" wie die Nationalelf liebevoll von den rund 320.000 Einwohnern genannt wird, ist zum ersten Mal in der Geschichte bei einem großen Turnier dabei. Noch lange haben die Spieler nach dem torlosen Unentscheiden gegen Kasachstan im EM-Qualifikationsspiel im strömenden Regen vor Freude getanzt und ausgelassen mit den Fans gejubelt. Anschließend ging die Feier auf der Laugavegur, der Partymeile in Reykjavík, bis in die frühen Morgenstunden weiter. Die Menschen können immer noch nicht fassen, dass die "ihre Jungs" sich noch vor etablierten Mannschaften wie dem amtierenden Weltmeister Deutschland oder Gruppengegner Niederlande für die EM-Endrunde in Frankreich qualifiziert haben.
"Unglaublich" heißt es immer wieder
Vor allem: so souverän, zwei Mal den WM-Dritten Niederlande besiegt, die Türkei und Tschechien. Wer hätte das dem "Fußballzwerg" Island zugetraut? Aber ist es tatsächlich noch ein "Fußballzwerg"? Und woher kommt diese Stärke? Ein Besuch bei einem Ligaspiel in der "Pepsideild", der ersten Fußball-Liga Islands. KR Reykjavík und ÍBV, der Mannschaft von den Westmännerinseln, Heimatverein von Nationaltrainer Heimir Hallgrímsson. Neben dem Schweden Lars Lagerbäck ist er der zweite, gleichberechtigte Trainer.
Flugkurve unberechenbar
Die Zuschauer müssen selbst im Sommer einiges aushalten. Wind, Regen und Kälte. Die Stadien sind eher Fußballplätze mit überdachten Tribünen, als moderne Arenen wie man sie in Europa selbst bei Dritt- und zum Teil Viertligisten hat. So bläst auch beim Spiel KR Reykjavík und ÍBV der Wind den Regen den rund 2.000 Zuschauern ins Gesicht. Die Ränge sind zwar überdacht, aber es bläst doch von allen Seiten herein.
Ein Vater packt seine Kinder in eine Decke, die beiden Frauen in der Pizzabude haben sich ins Innere verzogen. Arni Sigurdsson ist großer KR-Fan, so ein bisschen Wind und Regen sei doch harmlos, sagt der Manager eines Zulieferunternehmens der Aluminiumindustrie: „Das macht doch nichts. Ich gehe zu jedem Spiel. Das ist die Natur, es gibt Wind und Regen, manchmal hat man vier verschiedene Wetterlagen in einer Begegnung, Wind, Schnee, dann mal wieder Sonnenschein. Und klar beeinflusst es das Spiel.“ Die Flugkurve des Balls ist auf dem Platz nahe der Küste durchaus etwas unberechenbarer. Aber das gilt ja schließlich für beide Mannschaften.
Der normale Ligabetrieb so nah am Polarkreis ist auf die Sommermonate Mai bis September beschränkt. Die isländischen Fußballer sind zwar wetterfest und physisch gut durchtrainiert, aber für die professionelle Entwicklung war das in der Vergangenheit immer ein Problem.
Inzwischen ist das anders
Doch das hat sich verändert. "Das Team spielt überraschend gut und ich denke wir sind ein echter Schreck", sagt ein Zuschauer beim Ligaspiel und ergänzt: "Wir haben viele Spieler im besten Alter, die in internationalen Ligen spielen und wir haben zwei exzellente Trainer. Der schwedische Coach leistet sehr gute Arbeit für das Nationalteam."
Lars Lagerbäck war neun Jahre Nationaltrainer der Schweden, ein Jahr in Nigeria, bevor er das Amt in Island übernahm. Bevor er sich nach dem Turnier zur Ruhe setzen und Heimir Hallgrímsson den Job ganz überlassen will, haben sie zusammen noch einmal etwas ganz Großes erreicht. Beinahe wäre ihnen das bereits bei der Qualifikation für die WM in Brasilien gelungen. Nur hauchdünn scheiterte die Mannschaft im Playoff-Spiel gegen Kroatien.
Erfolg ist kein Zufall
Ist das alles Zufall? Oder Glück? Nein, sagt Heimir Hallgrímsson: "Wir haben gerade eine wirklich gute Spieler, eine Generation, die sich schon seit der Jugend kennt, gut eingespielt ist, die meisten im besten Fußballeralter zwischen 24 und 26 Jahren. Sie kennen sich bestens, mögen sich, der Teamspirit ist wirklich gut. Die meisten von ihnen haben vor ein paar Jahren auch die U21-Europameisterschaft bestritten."
Damals ist das Team in der Qualifikation sogar an der deutschen Mannschaft mit Mats Hummels, Benedikt Höwedes oder Kevin Großkreutz vorbeigezogen. Dass eine solch gute Generation in Island überhaupt so heranreifen konnte, ist wiederum auch kein Zufall. Knapp 100 Profis sind in Europas Ligen derzeit unter Vertrag. Keiner aus der Nationalmannschaft spielt in der isländischen Amateur-Liga. Aber die Grundlagen werden hier gelegt - mit einer professionellen Ausbildung schon bei den ganz Kleinen ab vier oder fünf Jahren.
Gut investiert
"Wir haben qualifizierte Trainer auch für die ganz jungen Spieler. Das ist sicher ein Grund dafür, dass unsere Jugendmannschaften so erfolgreich sind. Sie qualifizieren sich fast immer für große Turniere, sowohl die Mädchen als auch die Jungen", sagt Hallgrímsson. Für ihn gibt es aber noch einen zweiten wichtigen Erfolgsfaktor und der hat damit zu tun, dass der isländische Verband KSÍ vor gut zehn Jahren dafür sorgte, dass viel Geld in die Infrastruktur investiert wurde. "Wir haben große Hallen mit Kunstrasenplätzen, wo alle trainieren und spielen können, unabhängig von Wind und Kälte. Das ganze Jahr: 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Das gab es in der Vergangenheit nicht. Und das hat großen Einfluss auf die Spieler. Sie sind dadurch technisch sehr viel besser als früher.
Ein Zahnarzt erntet die Früchte
Ein Besuch in der größten Kunstrasenhalle am späten Samstagnachmittag. Ein paar Nachwuchsspieler nutzen die Halle für ein Torwarttraining. Nicht nur die Trainingsmöglichkeiten wurden durch die großen Hallen erweitert, auch die Saison ist dadurch länger geworden, weil vor dem regulären Ligabetrieb draußen jetzt noch ein Ligacup in der Halle veranstaltet wird. Auch wenn in Kórinn nur etwa 1000 Zuschauer Platz haben.
Gebaut wurden die sieben Kunstrasenhallen im Land von den einzelnen Gemeinden. Alle noch vor der Finanzkrise 2008. Mit öffentlichen Mitteln, privaten Sponsoren und auch ein bisschen Geld der FIFA. Das Dach über dem Kopf trage ganz wesentlich zur Blüte des isländischen Fußballs bei, ist Heimir Hallgrímsson überzeugt. Der ausgebildete Zahnarzt erntet jetzt die Früchte.