Israel/Hamas: Sind gezielte Tötungen legal?
2. August 2024Ismail Hanija war einer der wichtigsten Unterhändler bei den Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen. Vor wenigen Tagen wurde der politische Führer der militanten islamistischen Gruppe während eines Besuchs in Teheran durch eine ferngesteuerte Bombe getötet.
Die Tat könnte als "gezielte Tötung" bezeichnet werden. Darunter verstehen Rechtsexperten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz "die absichtliche und vorsätzliche Anwendung tödlicher Gewalt durch einen Staat oder eine organisierte bewaffnete Gruppe gegen eine bestimmte Person außerhalb ihres Gewahrsams".
Obwohl sich bislang niemand zu dem Anschlag bekannt hat, scheint es wahrscheinlich, dass die israelische Regierung dafür verantwortlich ist. Israel führt derzeit militärische Schläge im Gaza-Streifen gegen die Hamas durch.
Die Hamas wird von Deutschland, der Europäischen Union, den USA und anderen Staaten als Terrororganisation eingestuft. Schätzungen zufolge wurden in dem Krieg bisher fast 40.000 Menschen getötet.
Terror verhindern
In seinem 2008 erschienenen Buch "Targeted Killing in International Law" schreibt der Rechtswissenschaftler Nils Melzer, dass Israel sich im Jahr 2000 vermutlich als erstes Land der Welt zu einer Politik der gezielten Tötung bekannt hat.
Die israelische Regierung bezeichnete dies als "Politik der gezielten Verhinderung von Terrorismus", die sie während der zweiten palästinensischen Intifada anwandte.
Damals setzte Israel Hubschrauber, Kampfhubschrauber und Sprengfallen gegen Menschen in den palästinensischen Gebieten ein, die es als Terroristen bezeichnete. Bis 2007 wurden nicht nur 210 solcher "Ziele" getötet, sondern auch 129 Unbeteiligte, wie die führende israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem berichtet.
Israel ist nicht das einzige Land, das auf gezielte Tötungen setzt. Auch die USA, Russland, die Schweiz, Deutschland und Großbritannien tragen Verantwortung für gezielte Tötungen. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird diese Praxis nach Ansicht von Juristen weltweit zunehmend akzeptiert.
Prominente Beispiele sind die Tötung des Al Kaida-Führers Osama bin Laden durch US-Spezialeinheiten in Pakistan im Jahr 2011 und die jüngsten Drohnenangriffe in Syrien und im Libanon. Recherchen des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel aus dem Jahr 2014 zufolge, soll die Bundeswehr eine wichtige Rolle bei gezielten Tötungen von Taliban-Mitgliedern in Afghanistan übernommen haben.
Ist die Praxis legal?
Gezielte Tötungen sind generell umstritten. Wenn sie in einem anderen Land stattfinden, werden sie als Verletzung der Souveränität dieses Landes angesehen. Die Frage, ob solche Tötungen gegen das Gesetz verstoßen, ist jedoch ungeklärt.
In Israel wurden gezielte Tötungen 2002 zum öffentlichen Thema, als eine israelische und eine palästinensische Menschenrechtsgruppe versucht haben, diese Praxis gerichtlich zu stoppen. Es dauerte mehrere Jahre, bis der Oberste Gerichtshof Israels ein Urteil fällte.
"Die israelische Regierung verfolgt eine Politik der Präventivschläge, die den Tod von Terroristen zur Folge haben", bestätigte das Gericht im Dezember 2006. "Diese Schläge treffen manchmal auch unschuldige Zivilisten. Handelt der Staat also illegal?", fragte der oberste Richter Aharon Barak.
Die Antwort des Gerichts? Es kommt darauf an.
"Wir stellen fest, dass nicht im Vorhinein geklärt werden kann, ob jede gezielte Tötung völkergewohnheitsrechtlich verboten ist", heißt es in dem Urteil. "Ebenso wenig kann im Vorfeld geklärt werden, ob jede gezielte Tötung nach dem Völkergewohnheitsrecht zulässig ist."
Komplexer Rechtsrahmen
Rechtsexperten zufolge entscheiden eine Reihe von Faktoren über die Legalität gezielter Tötungen. Zu den wichtigsten Fragen zählt, nach welchem rechtlichen Rahmen die Tötung beurteilt wird. Nach innerstaatlichem Recht, bestimmten Kriegsgesetzen oder dem humanitären Völkerrecht?
In Konfliktzeiten wird zum Beispiel das humanitäre Völkerrecht (HVR) angewandt. Dies lässt bestimmte Gewalttaten während eines Kampfes zu. Doch juristisch argumentiert kann eine Tötung nach dem humanitären Völkerrecht in Frage gestellt werden, wenn das Opfer zum Zeitpunkt der Tötung nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilgenommen hat.
Zu klären ist auch, ob es sich bei dem Staat, der die Tötung begangen hat, um eine Besatzungsmacht handelt, ob man das Ziel auf andere Weise hätte aufhalten können (z.B. durch Festsetzen der Person), ob es zuverlässige Strafverfolgungsbehörden im Land gibt, die hätten eingreifen können, und welche Gefahr für Zivilisten bestand.
Rote Linien?
Menschenrechtsorganisationen halten in der Regel alle gezielten Tötungen für rechtswidrig und befürchten, dass ihr Einsatz zu alltäglich wird. Regierungen hingegen sehen sie oft als nützliches Instrument.
Die israelische Regierung setzt gezielte Tötungen regelmäßig ein, berichten Journalisten vor Ort.
"Bei meiner Berichterstattung stellte ich fest, dass Israel Ermordungen und gezielte Tötungen seit dem Zweiten Weltkrieg häufiger eingesetzt hat als jedes andere westliche Land. In vielen Fällen hat es dabei das Leben von Zivilisten aufs Spiel gesetzt", schreibt der israelische Investigativjournalist Ronen Bergman in einem Artikel in der New York Times, für den er auf sein Buch "Rise and Kill First: The Secret History of Israel's Targeted Assassinations" aus dem Jahr 2018 zurückgreift.
Bergman fährt fort: "Aber ich stieß auch auf eine lange Geschichte tiefer – oft erbitterter – interner Diskussionen darüber, wie der Staat erhalten werden kann. Darf eine Nation die Methoden des Terrorismus anwenden? Darf sie dabei unschuldige Zivilisten verletzen? Wie hoch ist der Preis? Wo ist die Grenze?"
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.