Israel und Gaza: Leben unter Beschuss
14. November 2019In den vergangenen zwei Tagen hat Lotem Ovadya zwei Stockwerke unter der Erde verbracht, im Schutzbunker des Barzilai Krankenhaus in Aschkelon, einer Küstenstadt im Süden Israels. "Alles wurde vom vierten Stock auf das Level -2 verlegt", sagt die Krankenschwester, die auf der kardiologischen Notfallstation arbeitet. "Es gab ständig Raketenangriffe, da geht es nicht anders. Bis dieser Krieg vorbei ist, bleiben wir hier." Fast jedes Mal, wenn die Situation zwischen Israel und Gaza eskaliert, werden die obersten Etagen des Krankenhauses in sichere Schutzräume unter der Erde verlagert. Aschkelon liegt nur rund 15 Autominuten vom abgeriegelten Gazastreifen entfernt und damit im Bereich von Raketen mit kürzerer Reichweite, die von Militanten aus Gaza abgefeuert werden.
Zwar werden viele der Geschosse durch das Abwehrsystem "Iron Dome" abgefangen, aber die Gefahr für die Bevölkerung ist dennoch groß. Und das häufige Aufheulen der Sirenen, die vor Raketen warnen, macht die Situation nicht leichter. "Es ist sehr stressig. Wenn ich hier bin, kümmere ich mich um die Patienten, und gleichzeitig mache ich mir Sorgen um meine Kinder zuhause, weil wir keinen Sicherheitsraum in unserem Haus haben", sagt Ovadya, die in einem Moschav - einer genossenschaftlich organisierten Siedlung - in der Nähe von Aschkelon wohnt, die auch unter Raketenbeschuss liegt.
Anatoli Ashutosh ist gerade zum ersten Mal Vater geworden. Er sitzt in der Krankenhaus-Cafeteria in einem Innenhof, als der Sirenenalarm aufheult. Schnell läuft er in einen Sicherheitsbereich im Innern des Gebäudes. In Aschkelon hat man rund 30 Sekunden Zeit um Schutz zu suchen, so die Kalkulation der Armee. "Man gewöhnt sich nicht daran", sagt Ashutosh. Er lebt eigentlich in der benachbarten Kleinstadt von Sderot, in der auch seit Dienstag morgen immer wieder der Sirenenalarm losgeht. "Es ist extrem stressig, weil man nie genau weiß, wann es kommt, und ob der Alarm rechtzeitig ist oder doch leicht verspätet. Ich renne immer gleich zu einem Ort, der etwas besser geschützt ist, so wie hier."
Kein Schutz in Gaza
Nur ein paar Kilometer entfernt, in Gaza-Stadt, aber in einer völlig anderen Welt, macht sich Ayman Mghamis Sorgen um seine Familie. In Gaza gibt es keine Schutzräume für die Zivilbevölkerung. Der junge Familienvater war gerade dabei in eine neue Wohnung zu ziehen, als die Gewalt erneut ausbrach. "Ich habe Angst davor, dass ich meinen Kindern und meiner Familie keinen Schutz bieten kann, wenn wir wieder bombardiert wird", sagt der Vater von drei kleinen Kindern am Telefon. "Ich spiele viel mit ihnen, damit sie die lauten Bomben-Geräusche, die man von Zeit zu Zeit hört, vergessen."
2009, während des ersten Gaza-Krieges, wurde sein Vater während eines Luftangriffs getötet. Nach drei Kriegen zwischen dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und Israel und unzähligen kürzeren militärischen Auseinandersetzungen in den vergangenen zehn Jahren liegen die Nerven bei vielen Menschen in Gaza blank. Die erneute Eskalation begann in den frühen Morgenstunden am Dienstag, als Israel Baha Abu al-Ata, einen Kommandeur des Militärflügels der militanten Organisation Islamischer Dschihad, mit einem gezielten Luftangriff in Gaza-Stadt tötete. Auch seine Frau wurde dabei getötet.
Heikler Zeitpunkt für Militäreinsatz
Israels Ministerpräsident Netanjahu bezeichnete Abu al-Ata als "tickende Zeitbombe". Er erklärte, Abu al-Ata sei der Kopf hinter mehreren Raketenangriffen auf Israel und stelle eine unmittelbare Bedrohung für das Land dar. Der Islamische Dschihad, eine kleinere, extreme militante Gruppierung, feuerte daraufhin hunderte Raketen auf den Süden Israels ab - einige erreichten auch Tel Aviv. Schulen blieben geschlossen, der Zugverkehr im Süden wurde eingestellt. Und auch die Geschäftsinhaber in Tel Aviv wurden am Dienstag aufgefordert, ihre Läden geschlossen zu halten - das halbe Land war plötzlich wie paralysiert. Im Gegenzug flog Israel immer wieder Angriffe auf den Gazastreifen.
Der Zeitpunkt des Militäreinsatzes war heikel, stellten einige israelische Kommentatoren fest: Israel steckt mitten in einer politischen Krise: Auch nach einer zweiten Wahl innerhalb von sechs Monaten war es Netanjahu nicht gelungen, eine Regierung zu bilden. Das Mandat zur Koalitionsbildung ging deshalb an Benny Gantz - selbst früherer Armeechef. Doch auch er hat noch weniger als eine Woche, um eine Regierung zu bilden.
Mögliche Waffenruhe durch ägyptische Vermittlung
Der erneute Ausbruch setzte einer relativ ruhigen Phase der letzten Monate ein plötzliches Ende. Zuletzt hatte Ägypten eine inoffizielle Waffenruhe nach dem Prinzip "Ruhe für Ruhe" vermittelt. Die Hamas und Israel schienen zumindest den fragilen Status Quo beibehalten zu wollen. Anders als bei bisherigen Auseinandersetzungen allerdings betonte die israelische Armee diesmal, dass der Fokus der Angriffe sich gegen den Islamischen Dschihad richte und nicht wie sonst auf die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert. In israelischen Sicherheitskreisen hieß es, dass man davon ausgehe, dass sich die Hamas nicht aktiv in die Auseinandersetzung einmischen werde, auch wenn sie der Gruppe Islamischer Dschihad Unterstützung zugesagt hatte.
In der Nacht zum Mittwoch hatten sich Raketenangriffe aus Gaza und israelische Luftangriffe nochmals verstärkt. Gleichzeitig gibt es Berichte aus Ägypten aus denen hervorgeht, dass eine Feuerpause zwischen Israel und dem Islamischen Dschihad vereinbart wurde. Auch der Islamische Dschihad hat die Waffenruhe bestätigt.
"Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben", schreibt Ayman Mghamis in einer Whatsapp-Nachricht in der Nacht aus Gaza. Allerdings ist er wenig optimistisch, dass die plötzlichen und oft unvorhersehbaren Eskalationen aufhören. Das sei nur realistisch, wenn es auch eine langfristige politische Lösung gibt, die sich auch mit den Ursachen der Probleme beschäftige, meint er. Auch in Aschkelon bleibt die Skepsis: "Es ist ein schreckliches Gefühl. Man kann dafür keine Routine entwickeln, alle paar Monate fliegen Raketen, und dann ist Ruhe. Zwei Monate später passiert es wieder", sagt Lotem Ovadya, die Krankenschwester aus Ashkelon. Für beide Seiten scheint eine erneute militärische Eskalation nur eine Frage der Zeit zu sein.