Israels Inlandsgeheimdienst ruft zur Ruhe auf
6. Juni 2021Vor der geplanten Vereidigung einer neuen Regierung in Israel hat sich der Inlandsgeheimdienst Schin Bet mit einer ungewöhnlichen Stellungnahme zu Wort gemeldet. Angesichts von massivem Druck und massiver Hetze der Anhänger von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte Geheimdienstchef Nadav Argaman vor Blutvergießen: Es gebe eine "Zunahme von Äußerungen, die zur Gewalt anstacheln."
Argaman verwies vor allem auf Diskurse in Online-Netzwerken: "In letzter Zeit identifizieren wir eine Verstärkung und schlimme Radikalisierung aggressiver und hetzerischer Debatten, vor allem in sozialen Netzwerken." Dies könne "von einigen Menschen oder einigen Gruppen als Legitimierung für Gewalt und Blutvergießen aufgefasst werden", warnte der Schin-Bet-Chef. Er forderte die Politiker aller Parteien auf, "ganz klar zum Ende solcher Debatten aufzurufen". Mehrere Medien betrachten die Äußerungen von Argaman als klare Kritik an Netanjahu.
Die israelische Nachrichtenseite ynet schrieb, die gegenwärtige Hetze erinnere stark an jene vor dem Mord an dem Regierungschef Izchak Rabin durch einen rechtsextremen jüdischen Fanatiker im November 1995. Der bekannte Kommentator Barak Ravid von der Nachrichtenseite Walla verglich die Lage mit der Erstürmung des US-Kapitols durch Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump im Januar: "Es besteht eine echte Bedrohung der geordneten Machtübergabe in Israel."
"Betrug des Jahrhunderts"
Netanjahu weist weit von sich, dass er im Kampf um seinen Posten auch vor dem Aufstacheln zur Gewalt nicht zurückschrecke. "Ich verurteile jeden Aufruf zur Gewalt", sagte der 71-Jährige vor Mitgliedern seiner Likud-Partei. Die Gegenseite fahre "eine noch schlimmere" Kampagne gegen ihn. "Man kann nicht sagen, wenn die Kritik von rechts kommt, ist es Aufwiegelung zur Gewalt, und wenn sie von links kommt, dann ist es gerechtfertigte Meinungsfreiheit", setzt sich Netanjahu zur Wehr.
Der scheidende Ministerpräsident von der rechtskonservativen Likud-Partei hatte den designierten Regierungschef Naftali Bennett zuvor verbal scharf angegriffen. Als "Betrug des Jahrhunderts" bezeichnete er die geplante Koalition von Bennetts ultrarechter Jamina-Partei mit sieben weiteren Parteien aus allen politischen Lagern, die Oppositionsführer Jair Lapid von der liberalen Partei Jesch Atid geschmiedet hatte. Netanjahu bezog sich mit seinen Äußerungen auf das gebrochene Wahlversprechen Bennetts. Dieser hatte im Vorfeld der Abstimmung erklärt, nicht mit linkssorientierten oder arabischen Parteien zusammengehen zu wollen.
Netanjahu stemmt sich gegen Machtverlust
Unter anderem baut er massiven Druck auf Abgeordnete aus, damit sie nicht für eine neue Regierung ohne ihn stimmen. Seine Unterstützer versammelten sich unter anderem vor den Häusern von Abgeordneten, um dem Ansinnen Netanjahus Nachdruck zu verleihen. Pro-Netanjahu Demonstranten beschimpften Bennett auf Kundgebungen in den letzten Tagen als "Verräter" und verbrannten Porträts des 49-Jährigen. Angesichts dieser Entwicklung erhält Bennett seit Donnerstag Schutz vom Geheimdienst Schin Bet.
Die Abgeordneten der Knesset werden am Montag formal über die Ankündigung der Opposition unterrichtet, eine Regierung ohne den langjährigen Ministerpräsidenten zu bilden. Damit wird der Weg für die zur Vereidigung der Regierung notwendige Vertrauensabstimmung in der Knesset geebnet. Diese wird laut israelischen Medienberichten voraussichtlich am Mittwoch oder dem darauffolgenden Montag stattfinden.
Nach Marathonverhandlungen und kurz vor Fristende hatte Oppositionsführer Lapid am vergangenen Mittwochabend die Bildung einer Regierung aus einem breiten Oppositionsbündnis verkündet. Auf dem Papier hat die "Koalition des Wandels" - bestehend aus rechten, linken und liberalen Parteien und erstmals auch einer arabischen Partei - eine hauchdünne Mehrheit in der Knesset und muss mögliche Abweichler unter den Parlamentariern fürchten. Die Koalitionspartner fordern daher, eine für die Vereidigung notwendige Abstimmung im Parlament so schnell wie möglich durchzuführen.
Sollten einige Abgeordnete aus der "Koalition des Wandels" doch noch abspringen, droht Israel die fünfte Parlamentswahl innerhalb von rund zwei Jahren.
qu/rb (afp, dpa, rtr)