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Glaube

Ist das Gottesdienst-Privileg noch zeitgemäß?

18. Dezember 2020

Kinos und Theater mussten wegen Corona schließen. Kirchen hingegen nicht. Ist die Ungleichbehandlung gerechtfertigt? Gottesdienste halten Räume offen für „das ganz Andere“, so Pater Max Cappabianca in seiner Spurensuche.

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Flash-Galerie Weihnachtsmärkte
Bild: picture alliance/dpa

Wurden in der ersten Pandemiewelle noch alle gottesdienstlichen Zusammenkünfte verboten, hat in der zweiten Welle der Gesetzgeber die Religionen vom Lockdown verschont. Zwar wurden Kinos, Theater und Konzerthäuser geschlossen, nicht aber Kirchen, Synagogen und Moscheen, obwohl Kulturveranstaltungen und Kultveranstaltungen vom äußeren Rahmen her einander ähneln. Warum dann diese bevorzugte Behandlung? Ist Kult systemrelevanter als Kultur?

Natürlich gibt es die juristische Seite: Die Religionsfreiheit ist ein hohes Verfassungsgut, und ihre Einschränkung ist ein schwerwiegender Eingriff, der gut begründet sein muss, wie das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr klargestellt hat. Und natürlich spenden Religionen Trost und können in der schwierigen Zeit des Lockdowns eine Hilfe sein. Aber als Begründung reicht dies meines Erachtens nicht aus, denn mancher mag in einer Beethoven-Symphonie oder einer guten Theater-Inszenierung mehr Trost finden als in Gebeten!

 

Auch Leerstellen haben eine Bedeutung

Das Corona-Privileg hat der Gesellschaft den besonderen Charakter öffentlicher Religionsausübung in Erinnerung gerufen. Religion ist mehr als ein Privatvergnügen, selbst in säkularen Staaten, denn sie eröffnen Räume für das ganz Andere. Diese Orte haben auch für Menschen eine Relevanz, die nicht an Gott oder eine höhere Instanz glauben, denn auch die Leerstelle hat eine Bedeutung!

Diese Orte müssten auch dann besonderen Schutz genießen, wenn nur noch eine Minderheit die dort praktizierten Rituale innerlich nachvollziehen kann. Denn es zeigt sich in ihnen, dass alle Gesellschaften etwas brauchen, das unverfügbar bleibt. Horizonte werden in ihnen eröffnet, die individuell unterschiedlich gefüllt werden können.

Es ist auch wichtig, dass diese Vollzüge nicht ins Virtuelle abgeschoben werden, denn Religion verlangt ganzheitliche Vollzüge. Leib und Seele gehören zusammen, daher kann kein Fernseh- oder Internetgottesdienst ein vollwertiger Ersatz für den gemeinschaftlichen Vollzug sein. Für Katholiken ist die persönliche Teilnahme an der Eucharistie mit Empfang der Kommunion wesentlich.

 

Weihnachten findet statt

Mit Blick auf das bevorstehende Weihnachtsfest gilt es auch diesen Aspekt in Erinnerung zu rufen. Das Schlagwort „Weihnachten findet statt“ darf sich nicht nur auf die Aufrechterhaltung familiärer Traditionen beziehen, sondern auch auf kollektive kultische Vollzüge wie den Besuch des Weihnachtsgottesdienstes, der immer noch Millionen Menschen anzieht. Die Kirchen ermöglichen so wichtige Momente kollektiven Innehaltens.

Daher sind die Kirchen gut damit beraten, nicht selbst leichtfertig die Gottesdienste an Weihnachten zur Disposition zu stellen, sondern durch konsequente Hygienekonzepte so vielen Menschen wie möglich eine persönliche Teilnahme zu ermöglichen.

In unseren Breitengraden sind die Kirchengebäude nicht aus dem Stadtbild wegzudenken. Menschen, die diese Mauern mit Leben füllen und vor der Musealisierung bewahren, erinnern die ganze Gesellschaft daran, dass es etwa größeres als sie selbst geben könnte. Daher ist es gut, dass die Verfassung die Gottesdienst- und Religionsfreiheit so konsequent schützt.

 

Pater Max Cappabianca
Bild: Roman Becker

P. Max. I. Cappabianca OP ist Mitglied des Dominikanerordens. Er ist als Hochschulpfarrer in Berlin und als TV-Moderator tätig.