Ist die "German Angst" wieder da?
27. Januar 2016DW: Es ist noch nicht lange her, da waren wir ein selbstzufriedenes Volk ohne größere gesellschaftliche Spannungen. Ruhe war unser Markenzeichen. Das ist plötzlich anders, warum?
Petersen: Ich weiß gar nicht, ob Ruhe immer unser Markenzeichen war. Eigentlich war unser Markenzeichen immer Unruhe, und es ist eher ungewöhnlich gewesen, dass in den letzten Jahren die Deutschen nach einer Weile zur Ruhe gekommen waren, was früher nicht der Fall gewesen war. Der Grund, warum jetzt die Ruhe, die wir noch vor einem Jahr hatten, nicht mehr da ist, das hat sicherlich mit der Einwanderungswelle zu tun. Die Menschen sind natürlich enorm besorgt angesichts der großen Anzahl von Flüchtlingen, die ins Land kommen, und haben so ein bisschen Angst, dass die vertraute, sichere Welt, in der sie bisher gelebt haben, unsicher wird.
Überkommt uns mal wieder die German Angst? Der Begriff ist ja nicht zufällig international in Umlauf. Reagieren wir schreckhafter auf Veränderungen?
Früher hätte ich gesagt: ja. Ich glaube, es ist inzwischen nicht mehr so. Die Bevölkerung reagiert erschrocken und verunsichert, aber nicht schreckhafter als andere. Ich glaube nicht, dass eine vergleichbare Situation in Frankreich oder Großbritannien nicht auch ähnliche Sorgen auslösen würde.
Was beunruhigt die Deutschen an der Flüchtlingsaufnahme im großen Stil besonders?
Es ist allgemein das Gefühl, dass gleichsam die Pfosten, an denen man sich festhalten konnte, plötzlich nicht mehr da sind. Es ist ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Ich glaube nicht, dass man das wirklich konkretisieren kann. Es ist ein seltsames Gefühl, dass einem die Felle davonschwimmen, und mit einemmal schaut man unsicher in die Zukunft, weil man fürchtet, dass die Lage nicht kalkulierbar ist.
Ist es die Angst vor Terror oder überwiegend die Sorge um steigende Kriminalität?
Da kommt einiges zusammen. Natürlich haben die Leute jetzt angesichts aktueller Ereignisse auch große Angst vor Kriminalität und eine starke Angst vor Terroranschlägen, aber das ist nach größeren Ereignissen eigentlich immer so, also, das ist nichts wirklich Ungewöhnliches. Dass heute über Prozent der Befragten angeben, sie fürchteten sich vor wachsender Kriminalität, ist natürlich ein Echo der Ereignisse von Köln an Silvester. Aber das ist es nicht wirklich. Dahinter steckt dieses Gefühl von Orientierungslosigkeit, das über die Tagespolitik hinausgeht.
Ergreift uns gerade Zukunftsangst?
Wir sind in der Gegenwart verstört, weil wir uns um unsere Zukunft sorgen. Mit der Gegenwart ist die Bevölkerung ja einigermaßen zufrieden. Das ist wahrscheinlich ein wesentlicher Kern des Phänomens zur Zeit. Wenn man die Menschen fragt, ob Sie es vielleicht auch so sehen, dass deutschlandweit alles gutgeht und es das Beste wäre, wenn sich nichts ändern würde, dann sagen sehr viele: ja. Die Sorge besteht nicht darin, dass die Gegenwart irgendwie unbeherrschbar wäre, sondern die Sorge besteht darin, dass es in der Zukunft nicht mehr beherrschbar sein könnte.
Wer ist denn der Prototyp des derzeit ängstlichen Deutschen?
Die Tendenz, am Bestehenden festzuhalten, wird immer stärker, je älter Menschen werden. Das ist auch verständlich. Junge sind im Zweifel dynamisch, sie wollen noch etwas erreichen. Sie sind in mancherlei Hinsicht auch flexibler, und je älter die Menschen werden, umso wichtiger ist es Ihnen, dass das Bestehende erhalten bleibt. Das ist typisch für eine älter werdende Gesellschaft. Eine alternde Wohlstandsgesellschaft wird immer mehr auf das Bewahren des Erreichten Wert legen und tendenziell immer weniger auf das Erreichen von Neuem.
Angst ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Die Ängstlichen sammeln sich gerade hinter der AfD. Verändert sich die Parteienlandschaft gerade grundlegend?
Das kann man noch nicht sagen. Momentan profitiert die AfD natürlich von dieser Verunsicherung. Ob Sie eine dauerhafte Kraft im politischen Spektrum bleiben wird, wird davon abhängen, ob es gelingt, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen und auch die Krisen in Europa. Wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, die Regierung hat die Dinge einigermaßen im Griff, dann könnte ich mir vorstellen, dass die Zustimmung zur AfD auch wieder geringer wird, und dann hängt es natürlich auch von der AfD selbst ab, zum Beispiel von der parteiinternen Entwicklung. Da sind viele Faktoren im Spiel. Klar ist, dass die relative Stärke der AfD derzeit eine der Tagespolitik geschuldete Entwicklung ist.
Dr. Thomas Petersen ist Publizist und Kommunikationswissenschaftler am Institut für Demokopie in Allensbach am Bodensee. Er ist Autor der aktuellen Allensbach-Studie über die Deutschen und ihre Angst vor Veränderung.
Das Interview führte Volker Wagener.