Riskiert die Reise lieber nicht!
9. August 2016Sie kauern auf dünnen Pappkartons oder Plastikstühlen, werden von freiwilligen Helfern mit Essen aus der Nachbarschaft versorgt. Die meisten, die rund um den Bahnhof Tiburtina in Rom campen, haben Gewalt, sexuelle Übergriffe und sogar ihr Leben riskiert, um der extremen Armut oder der politischen Unterdrückung in ihrem Land zu entkommen. Sie kommen aus Westafrika, dem Irak, Äthiopien oder dem Sudan.
"Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen"
"Es ist sehr gefährlich für Frauen", sagt eine 19-Jährige, die im Juli im Süden Italiens gerettet wurde. Sie will zu ihrem Mann nach Zürich und eine Ausbildung machen, wie sie sagt.
Ihre Reise nach Italien war grauenhaft. Einen Monat lang wartete sie in Libyen in einem Lager von Schleusern auf ein Boot - es gab kaum etwas zu essen oder zu trinken. "Dort sind Leute, die dich ausrauben oder Männer, die über dich herfallen", sagt sie. Während der fünftägigen Bootsfahrt seien fünf Passagiere gestorben, vor Erschöpfung oder Durst. "Sie haben ihre toten Körper einfach über Bord geworfen."
Neben ihr sitzt Abioa. Er kommt aus Äthiopien und hat ähnlich schlimme Erfahrungen gemacht. Auch er berichtet von gewalttätigen Übergriffen. Seit er im Juni nach Italien gekommen sei, habe er sechs Mal vergeblich versucht, die Grenze zur Schweiz zu überqueren. "Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen", sagt Abioa.
"Riskiert die Reise lieber nicht!"
Genau solche Menschen wollen das italienische Innenministerium und die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit ihrer neuen Kampagne "Aware Migrant"Kampagne "Aware Migrant" erreichen. Die Botschaft der Kampagne: Riskiert die Reise hierher lieber nicht!
Zur Abschreckung berichten junge Männer und Frauen von ihren schrecklichen Erfahrungen während der Flucht aus ihrem Heimatland. Über Radio und Fernsehen in 15 afrikanischen Ländern sowie Facebook und anderen Social-Media-Kanäle werden die Geschichten verbreitet.
In einem Video erzählt eine junge Frau von ihrem quälenden Durst, den sie in der Wüste in der Gewalt der Schmuggler erleiden musste. Ein Mann berichtet, wie er nicht aufhören konnte zu weinen, als die Schleuser ihn zwangen, sich von seinem kleinen Kind zu trennen, bevor er in ein Boot in Libyen stieg.
Das Ziel: Wirtschaftsflüchtlinge abschrecken
"Sei dir darüber im Klaren, Schwester!", "Sei dir darüber im Klaren, Bruder!" – so lautet der Slogan der Kampagne. Sie macht deutlich, wen sie erreichen will: Wirtschaftsflüchtlinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso zurück in ihre Heimatländer geschickt würden. Menschen, die wenig Chancen haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden.
Seit 2014 kamen mehr als 400.000 Flüchtlinge mit dem Boot in Italien an. Seit Anfang des Jahres hat Italien rund 90.000 aufgenommen. Die meisten kommen aus Afrika und die meisten – fast 60 Prozent im vergangenen Jahr – bekommen keinen Flüchtlingsstatus.
Italiens Innenminister Angelino Alfano, der die 1,5 Millionen Euro teure Kampagne mitgestartet hat, sagt: Die Gewalt in Libyen nehme zu, genauso wie die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt nach Italien sterben. Allein in diesem Jahr seien 3000 Menschen im Meer umgekommen – 25 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im vergangenen Jahr.
Zweifel an Motiven
Andrea Coster arbeitet ehrenamtlich als Koordinator beim Flüchtlingszentrum Baobab. Seiner Ansicht nach ist es wichtig, dass die schrecklichen Erlebnisse der Migranten kommuniziert werden.
Gleichzeitig zweifelt er an den vorrangigen Zielen der italienischen Regierung. "Neben diesen Berichten sollte Europa auch alles dafür tun, diese furchtbaren Risiken zu minimieren und einen sicheren, humanitären Weg für die Menschen schaffen, die vor Konflikten oder Hunger fliehen", sagt er.
Die ganze Wahrheit soll erzählt werden
Nach Angaben der IOM soll die Kampagne auch die Informationslücke füllen, die von bereits Geflohenen geschaffen wird. Weil diese oft unter großem Druck stünden, dass ihre Reise ein Erfolg werden müsse, trauten sie sich nicht, die ganze Wahrheit zu erzählen.
"Offenbar wird es als schreckliches Versagen angesehen, wenn du missbraucht, geschlagen oder ausgeraubt wirst", sagt Frederico Soda vom IOM-Büro in Rom. "Manche dieser Erfahrungen sind außerdem so traumatisch, dass die Betroffenen sie einfach ausblenden wollen."
Mit der Kampagne sollen aber nicht nur die oft ausbleibenden Berichte der Geflohenen ergänzt, sondern auch die falschen und vielfach rosigen Versprechungen der Schmuggler widerlegt werden, heißt es aus dem Innenministerium. Damit die Anreize, nach Italien zu kommen, von vornherein minimiert werden.