Ivica Dacic: Kosovo braucht Kompromisse
9. Juli 2021Ivica Dacic, der Präsident des Parlaments der Republik Serbien, war am Samstag, 26. Juni 2021, zu Gast bei Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in Berlin. Anschließend gab er der DW ein halbstündiges TV-Interview in serbischer Sprache, das wir hier in Auszügen auf Deutsch übersetzt dokumentieren.
DW: Die Frage der Anerkennung Kosovos durch Serbien wird als eine wichtige Voraussetzung für eine engere Bindung Ihres Landes an die EU gesehen. Hier unterscheiden sich die Positionen Serbiens und Deutschlands grundlegend: Sie erkennen Kosovo nicht an. Deutschland tut es nicht nur, sondern gehört sogar zu den Ländern, die auf einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien bestehen. Stört das die Entwicklung der Beziehungen zwischen beide Ländern sehr oder haben Sie dieses Thema bei Ihren Gesprächen mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble beiseite gelassen?
Ivica Dacic: Wir haben uns nicht viel damit beschäftigt. Wir wissen natürlich, wo wir uns unterscheiden. Und wir wissen natürlich auch, was die deutsche Seite denkt, wie wir weiter vorgehen sollten, das heißt, dass Serbien die Unabhängigkeit Kosovos anerkennen (aufgerufen am 17. Februar 2008; Anm. d. Red.) sollte. Wir sind andererseits für politische Lösungen, für Kompromisse - aber nicht für das, worüber wir jetzt sprechen. Das ist kein Kompromiss, das ist die Forderung aus (der Kosovo-Hauptstadt; Anm. d. Red.) Prishtina.
Sie sprechen von einem Kompromiss. Wie könnte der konkret aussehen?
Kompromiss bedeutet, dass etwas im Interesse beider Seiten liegt. Ob das möglich ist, weiß ich nicht. Wir haben eine Situation, die noch offen ist. Und das bedeutet, dass die Frage des Status Kosovos ungelöst ist, ungeachtet der Tatsache, dass Prishtina die Frage für gelöst hält. Sie ist nicht gelöst, bis Kosovo in die UNO aufgenommen wird.
Auf der anderen Seite ist die Situation vor Ort so, dass Serbien trotz der Tatsache, dass 99 Prozent der serbischen Bürger sagen, Kosovo sei ein Teil Serbiens, keine volle Souveränität in Prishtina hat. Aber genau so hat Prishtina im Nordkosovo nicht die volle Souveränität. Kann sich das ändern, außer durch Krieg? Lässt es sich zum Beispiel durch Kompromisse ändern? Ja, das geht. Kompromisse sollen die Situation vor Ort wiederspiegeln.
Was halten Sie von einer Teilung Kosovos?
Das alles sollte Teil einer Vereinbarung sein. Wir sind jetzt in einer Situation, in der, wer auch immer über dieses Thema spricht, meint, dass Serbien Kosovo anerkennen soll. Haben wir eine Situation, in der jemand eine Lösung vorschlägt, die einen Kompromiss zwischen serbischen und albanischen Interessen darstellt? Im Moment will sich niemand damit auseinandersetzen, niemand will Verantwortung übernehmen.
Wird Serbien Kosovo irgendwann anerkennen?
Wir werden keine einseitige Lösung anerkennen. Man soll weiter miteinander reden, den Dialog fortsetzen. Ich wiederhole: Für mich ist alles akzeptabel, was unter einem Kompromiss subsumiert werden könnte, der einen Teil beider Interessen beinhaltet.
Seit Beginn des Dialogs wird immer wieder ein Thema erwähnt, und zwar die Frage der vermissten Personen (aus den Kriegen in Kroatien 1991-95, in Bosnien und Herzegowina 1992-95 und Kosovo 1998/99; Anm. d Red.). Warum wurden die Toten noch immer nicht gefunden?
Ich stimme absolut zu, dass vermissten Personen Vorrang eingeräumt werden sollte. Aber es geht nicht nur um vermisste Albaner...
...natürlich nicht, denn es werden ja auch Menschen aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Kosovo vermisst...
...es geht auch um vermisste Serben in Kosovo...
...natürlich. Warum ist diese Frage noch immer nicht gelöst? Sie waren sowohl Ministerpräsident als auch Innenminister Serbiens, Sie haben am Dialog teilgenommen. Warum haben Sie nicht darauf bestanden, dass das Thema als zivilisatorisches Problem von den anderen strittigen Fragen getrennt und gelöst werden muss?
Ich denke auch, dass dieses Problem gelöst werden muss. Aber ich weiß nicht, warum Sie denken, dass dabei Politiker zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Soweit ich weiß, wurde in Serbien nie jemandem etwas verboten in dieser Sache oder gar befohlen, etwas nicht zu tun. Ich weiß auch, dass es Einwände aus anderen Ländern gibt, und wir haben auch Einwände gegen Prishtina.
Wir haben den Behörden dort eine Liste von Orten gegeben, an denen sie suchen müssen, aber sie tun es nicht. Ich stimme Ihnen in dieser Frage also zu: Dieses Thema sollte außerhalb des politischen Bereichs liegen. Das Schicksal vermisster Personen ist eines der Themen, die unbedingt angegangen werden sollten.
Noch immer werden etwa 1650 Vermisste aus dem Kosovo-Krieg gesucht, davon sind über 1200 Albaner und etwa 420 Serben. Ihre Familien suchen verzweifelt nach Informationen, um ihre Verwandten zu finden, aber irgendjemand hält diese Informationen zurück. Das können die Menschen nicht verstehen.
Ich kenne jetzt nicht die genauen Zahlen, wie viele Menschen es sind, aber ich wiederhole es noch einmal: Serbien wird alles tun. Jeder kann sich melden. Wer meint, Serbien habe dabei gewisse unehrenhafte Absichten, kann jederzeit eingreifen. Serbien hat nichts zu verbergen. Wenn wir nahe Belgrad Leichen entdeckt haben, was wäre dann unser Interesse, andere Gräber zu verschleiern?
Aber andererseits haben wir vorgeschlagen, an fünf Orten in Kosovo zu arbeiten, wo der Verdacht auf Massengräber besteht. Und das wurde bisher nicht akzeptiert.
Thema Bosnien und Herzegowina: Immer wieder wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Serbien und der (serbischen Entität in Bosnien; Anm. d. Red.) Republika Srpska aufgeworfen. Und das wird wiederum oft in den Kontext der Geschehnisse in Kosovo gestellt. Glauben Sie, dass hier eine Parallele gezogen werden kann?
Warum nicht? Warum glauben die Albaner, dass sie mehr Rechte haben, einen eigenen Staat auf dem Territorium anderer Staaten zu gründen als die Serben? Es ist unmöglich, das rechtlich zu verteidigen.
Laut der Badinter-Kommission (1991 gegründet von der damaligen Europäischen Gemeinschaft, um sich mit der Klärung der juristischen Fragen zu befassen, die sich aus dem Zerfall Jugoslawiens ergeben; Anm. d. Red.) sollte Jugoslawien entlang der Grenzen der damaligen Republiken zerfallen. Dabei wurde eine Ausnahme gestattet (Kosovo, das eine autonome Provinz innerhalb der Republik Serbiens war; Anm. d. Red.). Wie können Sie jetzt sagen, dass niemand anderes ein Recht darauf hat?
Dass Kosovo ein Fall "sui generis" sei, wurde erfunden, um es für alle anderen leichter zu machen, die Unabhängigkeit Kosovos zu schlucken. Und alle meinen, das gelte nur für Kosovo, aber nicht für mein Land. So sagen die Bosniaken in Bosnien jetzt, Kosovo kann ruhig unabhängig sein. Und wenn man sie fragt, warum dann die Republika Srpska nicht auch unabhängig werden sollte, dann sagen sie: Das ist nicht dasselbe. Warum sollte es nicht dasselbe sein?
Sie denken also, dass es Parallelen zwischen Bosnien und Kosovo gibt?
Wenn jemand sagt: Die Situation vor Ort war so, dass Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt hat und der Westen das akzeptieren musste, dann sehe ich nicht ein, warum das anders laufen solle, wenn es um andere Fälle in der Welt geht. Dafür setzen wir uns aber gar nicht ein. Das fördern wir nicht. Aber die Bosniaken sollten jetzt nicht kommen und sagen: Nun, wenn die Muslime mehr als 51 Prozent (der Bevölkerung Bosniens, Anm. d. Red.) stellen, dann werden wir die Republika Srpska abschaffen und einen Einheitsstaat (in Bosnien; Anm. d. Red.) errichten.
Bosnien und Herzegowina wurde in Dayton als ein Staat anerkannt, der aus zwei Entitäten besteht...
Das ist richtig, aber genau das wollen die Bosniaken ja ändern. Sie fordern ständig die Unitarisierung von Bosnien - die Abschaffung der Entitäten, die Abschaffung der Gleichberechtigung der Völker und so weiter.
Was halten Sie von der Idee, die Grenzen auf dem Westbalkan neu zu definieren?
Ich war nicht dafür, aber als Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit erklärte, hat es die Grenzen auf dem Balkan neu definiert. Das ist die Wahrheit und eine historische Tatsache. Und jetzt kann man nicht sagen: Na, aber ab jetzt nicht mehr.
Es ist, wie wenn Kinder spielen und einer dir etwas wegnimmt und dann sagt: Nun, von jetzt an gibt es das aber nicht mehr. Nein, das geht nicht. Darauf bestehen wir nicht, aber man soll jetzt nicht so heuchlerisch sein und sagen: Nun, jetzt gibt es keine Grenzverschiebungen mehr. Warum hat man das nicht gesagt, bevor unsere Grenze verschoben wurde? Warum hat nicht jemand gesagt: Es gibt keine Veränderung der Grenzen Serbiens?
Aber darüber reden wir ja überhaupt nicht so. Wir sprechen von einer Vereinbarung. Wir reden über Frieden. Wir sprechen von einer politischen Lösung. Die wird kommen, wenn es eine Einigung gibt. Und wenn nicht, dann nicht.
Ivica Dacic (55) wurde in der Stadt Prizren in Kosovo geboren. Er studierte Journalismus in der serbischen Hauptstadt Belgrad und wechselte 1990 in die Politik. Dacic ist Vorsitzender der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Er bekleidete im Laufe seiner Karriere mehrere hochrangige staatliche Positionen: als Innenminister, als Außenminister und später als Premier. Zurzeit ist er Präsident des serbischen Parlaments.