Jamann: "Nicht nur in Entwicklungsländern muss sich was ändern"
2. Juni 2013DW: Herr Jamann, rund zwei Jahre vor den Ende der Frist für die sogenannten Millenniums-Ziele der Vereinten Nationen liegen jetzt die Vorschläge für neue Entwicklungsziele nach 2015 vor. Warum sind neue Ziele nötig?
Wolfgang Jamann: Die für 2015 gesteckten Ziele wird man nur zum Teil erreichen. Man hat sich jetzt auf eine konsequente Weiterentwicklung dieser Ziele verständigt. Bis 2015 sollte der Anteil der Hungernden und der Armen weltweit halbiert werden. Damit kann es natürlich nicht getan sein. Jetzt hat man konsequenterweise gesagt, bis 2030 sollen Hunger und Armut abgeschafft werden. Dieser Bericht wurde in einem durchaus beeindruckenden Prozess erstellt. Jetzt müssen wir abwarten, ob die Empfehlungen aus diesem Bericht von den Vereinten Nationen und den nationalen Regierungen tatsächlich umgesetzt werden.
Worin unterscheidet sich die neue Entwicklungsagenda von den Millenniumszielen?
Ein wesentlicher Unterschied war der Entstehungsprozess der neuen Agenda. Die 2015er-Ziele wurden am Reißbrett entworfen, in der Weltbank, bei den Vereinten Nationen. Dieses Mal hat man sich viel mehr Gedanken gemacht. Hier gab es sehr viele Konsultationen, auch mit der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft.
In dem neuen Bericht wird auch über die Verantwortung der Industrieländer gesprochen. Das möchten wir ausdrücklich loben. Nicht nur in den Entwicklungsländern, wo Hunger und Armut vorherrschen, muss sich etwas ändern. Es gibt eine gemeinsame globale Verantwortung aller, die auf diesem Planeten etwas zu sagen und zu tun haben.
Wie werden denn die Industrienationen konkret einbezogen?
Mit der Konkretisierung hapert es noch. Im Bericht wird mehrfach darüber gesprochen, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt, dass man die Abschaffung von Hunger und Armut und auch andere Ziele wie die Vermeidung des Klimawandels nur erreichen kann, wenn man gemeinsam miteinander arbeitet. Man bleibt aber noch etwas zurückhaltend, wenn es darum geht, bestehende Systeme konkret zu hinterfragen, wie beispielsweise die unfairen Handelsbedingungen, aber auch das Finanzsystem, das alles andere als armutsfreundlich agiert. In dem Panel waren ja auch einige Beteiligte, die selbst in Regierungsverantwortung stehen, wie der britische Premierminister David Cameron, der den Vorsitz des Gremiums innehat. Da hat man sich selbst vielleicht noch nicht genügend zugetraut.
Wie sieht es bei den neuen Entwicklungszielen mit dem Verhältnis von Armutsbekämpfung und Bekämpfung der Ursachen von Armut aus?
Man hat sehr differenziert nach Ursachen von Hunger und Armut geschaut und formuliert, was konkret notwendig ist, um beides zu bekämpfen. Wir brauchen in Zukunft hunderte Millionen Jobs. Es werden folglich auch Veränderungen unseres Wirtschaftsgefüges angesprochen: Wir brauchen eine Wirtschaft, die stärker darauf ausgerichtet werden muss, Jobs zu schaffen, nicht nur Profite zu erwirtschaften. Man spricht insgesamt von einer transformatorischen Entwicklung, und das ist eine gute Nachricht.
Allerdings ist der Bericht noch nicht konkret genug. Es wird zwar mehrfach gesagt, dass dieser Bericht auf Menschenrechten basieren soll. Doch zum Beispiel das Recht auf Nahrung wird nicht explizit genannt. Das aber würde die fehlende Verbindlichkeit herstellen, denn ein Menschenrecht muss befolgt werden.
Armutsbekämpfung ist in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern in den vergangenen Jahren auf Kosten der Umwelt geschehen. Was muss sich da ändern?
Jede nationale Regierung ist hier in der Pflicht - übrigens auch die Bundesregierung. Gute Regierungsführung ist eine zentrale Voraussetzung für diese Agenda. Zu den fünf Kernforderungen des Berichts gehört es, 'good governance' und arbeitsfähige Institutionen zu schaffen, die die Ziele auch umsetzen. Da wird konkret gefordert, Verantwortung zu zeigen für soziale Sektoren, aber auch Steuergerechtigkeit in Schwellenländern herzustellen. Es werden ja bei weitem nicht überall Steuern gezahlt. In diesen Bereichen gibt es wenig Verantwortung in Entwicklungsländern.
Wie muss sich die deutsche Entwicklungspolitik neu positionieren?
Es ist bedauerlich, dass solche wichtigen globalen Entscheidungen im jetzt beginnenden Wahlkampf überhaupt nicht stattfinden. Deutschland ist auch ein wichtiger globaler Player. Es ist wichtig, dass globale Zukunftsfragen mit Ministerien unterlegt werden, die auch das Mandat haben, mit radikalen Zielen und Maßnahmen adäquat umzugehen. Sie müssen mit den Finanzen und den Zuständigkeiten ausgestattet werden, damit Entwicklungshilfe nicht wieder in eine Ecke gedrängt wird. Es darf nicht so sein, dass jemand dieses Ministerium erhält, weil es noch übrig ist. Zentrale Zukunftsfragen, die sich mit Klimawandel, globaler Energieversorgung und globaler Gerechtigkeit auseinandersetzen, gehören in ein Bundestagsprogramm - und zwar nicht unter "ferner liefen".
Entwicklungspolitik ist nicht nur Entwicklungshilfe oder -zusammenarbeit. Das ist eine Zukunftsaufgabe, die uns alle angeht. Hier spielen Umweltfragen ebenso eine Rolle wie globale Wirtschaftszusammenhänge. Auch die Außenpolitik ist von zentraler Bedeutung. Konfliktbewältigung und gute Regierungsführung gehören in eine globale Entwicklungsagenda. Und die fordern wir als Welthungerhilfe.
Es gibt zurzeit zwei parallele Prozesse auf UN-Ebene: die Formulierung von nachhaltigen Entwicklungszielen, den sogenannten "SDGs", und die jetzt vorgelegte Post-2015-Agenda. Sehen Sie Chancen, dass beide Prozesse zusammenfließen?
Inhaltlich passen beide Prozesse wunderbar zusammen. Es geht um nachhaltige Entwicklung in Nord und Süd. Dass die Vereinten Nationen hier unterschiedliche Prozesse geschaffen haben, ist ein wenig unglücklich.
Der Post-2015-Prozess wird im September durch die UN-Vollversammlung formell auf den Weg gebracht. Der SDG-Prozess, also die nachhaltigen Entwicklungsziele nach Rio+20, kommen jetzt erst ins Rollen. Wir haben es also mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit unterschiedlichen Akteuren zu tun. Bei der Ausarbeitung der nachhaltigen Entwicklungsziele sind die UN-Mitgliedsnationen mit im Boot. Da haben die Autoren der Post-2015-Agenda Sorge, dass die inhaltlichen Debatten von Struktur- und Prozessfragen überlagert werden. Das Gremium fordert, dass beide Prozesse miteinander verzahnt werden. Wir haben die Hoffnung, dass das noch gelingt.
Die Welthungerhilfe ist eine konfessionell und politisch unabhängige Nichtregierungsorganisation, die sich neben der ummittelbaren Katastrophenhilfe in Entwicklungsländern vor allem im Bereich der ländlichen Entwicklung und der Ernährungssicherheit engagiert.