Bambi zeigt Zähne
21. Mai 2014Vielleicht hätte er vor fünf Jahren auch noch ein bisschen mitgelästert, aber dieses Mal blickte Jan Philipp Albrecht ziemlich gequält auf die Diskussion im engen Vortragssaal. Es ging mal wieder gegen Europa. Genauer gesagt, gegen das Europa-Parlament, das sich auf der Berliner Internet-Konferenz re:publica der Öffentlichkeit präsentierte. "Hashtags & Politics: Europawahl 2014" hatten die Macher das Panel genannt - und tatsächlich zeigten die Öffentlichkeitsarbeiter des Parlaments eine bunte Palette von Angeboten: Von Twitter über Facebook bis hin zu Youtube warben sie für die Arbeit des Parlaments und eine hohe Wahlbeteiligung - mit bislang überschaubarer Resonanz.
Das Angebot sei eben nicht besonders sexy, kritisierte eine junge Politikwissenschaftlerin im Publikum und lobte die Selbstdarstellungsqualitäten in der amerikanischen Politik. In seinem etwas abgenutzten Jackett, unter dem er mit Vorliebe T-Shirts trägt, und mit dem Rucksack auf dem Rücken ist Albrecht die ganz große Selbstdarstellung fremd. Aber als der Moderator ihn als Zuhörer im Eingangsbereich entdeckte, nutzte der wahlkämpfende Abgeordnete sofort die Gelegenheit: "Es sind die Parteien und Fraktionen im Europa-Parlament, die auf ihren Accounts stärker polarisieren und vielleicht unterhaltsamer kommentieren", wirbt Albrecht um Verständnis dafür, dass die Institution Parlament deutlich nüchterner agiert.
Albrecht ist sich sicher: Wir brauchen mehr Europa
Die Kritik der Wissenschaftlerin - so korrekt die Zustandsbeschreibung auch sein mag - geht, daran lässt der Politiker keinen Zweifel, an der Realität vorbei. So sei das oft in Europa. Und entsprechend beharrlich versucht der junge Abgeordnete immer wieder, die Dinge gerade zu rücken. Ob es die längst nicht mehr existierende Gurken-Verordnung ist, die auf Druck der Nationalstaaten eingeführt wurde, ob es die angeblich faulen EU-Abgeordneten oder die EU-Bürokraten sind, die immer mehr Macht an sich zögen: Das Brüsseler Europa mag für viele Gesprächspartner negativ besetzt sein, der Grünen-Politiker sieht vor allem aber das Positive. "Ich bin stark damit beschäftigt zu zeigen, was in Europa möglich ist", fasst der 31-Jährige Jurist seine Arbeit und den mühsamen Wahlkampf, bei dem die Mobilisierung nur langsam vorankommt, zusammen.
Albrecht wirbt im Wahlkampf offensiv für mehr Europa. Auch wenn die Rechtspopulisten mit dem Ruf nach "weniger Europa" in den Umfragen fast überall hohe Zustimmungswerte erringen und sogar EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Kompetenzen wieder in die Nationalstaaten zurückverlagern möchte. "Ich glaube sogar, dass wir noch mehr Souveränität teilen müssen." Als Argument muss er nur auf seine eigene Bilanz als Abgeordneter verweisen.
Kampf gegen Google, Facebook und Co.
Als Jan Philipp Albrecht 2009 erstmals ins Europaparlament gewählt wurde, war er für die Öffentlichkeit vor allem der jüngste deutsche Abgeordnete in Straßburg und Brüssel. Das stimmt zwar immer noch, aber von großer Bedeutung ist dieses Alleinstellungsmerkmal heute nicht mehr. In fünf Jahren hat sich der Grüne einen Namen als Bürgerrechtler, Datenschützer und IT-Experte gemacht. "Zuckerbergbesieger" nannte ihn die FAZ, da er als Berichterstatter die Position des Europa-Parlaments für die Datenschutzrichtlinie koordinierte. Mit sicherem Gespür für den richtigen Moment nutzte Albrecht die Aufregung um die Snowden-Enthüllungen, um Europa auf mehr Datenschutz zu verpflichten.
Nach jahrelangen, mühsamen Verhandlungen hat das EU-Parlament im März mit großer Mehrheit diese Datenschutzverordnung verabschiedet - und Albrecht damit einen prestigeträchtigen Erfolg beschert: "Das ist eine Sternstunde des Parlamentarismus und mein persönlich größter Erfolg in diesen fünf Jahren gewesen. Wir haben auf europäischer Ebene etwas geschaffen, das den Menschen zeigt, wofür Europa gut ist", blickt er auf seine noch recht junge Karriere zurück. Doch noch haben die einheitlichen Datenschutzregeln, die US-Unternehmen wie Facebook und Google mit heftiger Lobbyarbeit verhindern wollten und immer noch wollen, keine Gesetzeskraft erlangt. Denn auch das gehört zum mühsamen Geschäft in Europa: Anders als in den Nationalstaaten hat bei EU-Gesetzen das Parlament nicht das letzte Wort. Auch die Staats- und Regierungschefs müssen zustimmen. Und die spielen gerade auf Zeit. Noch einmal aufgeschnürt, da ist sich Albrecht aber sicher, werde das Paket nicht. Die fraktionsübergreifende Mehrheit im Parlament sei dafür ein Garant. Und den Regierungen müsse man jetzt eben auf die Finger klopfen.
Immer auf Achse
"Fraktionsübergreifend" - ein Wort, das für den Politiker einen guten Klang hat, obwohl der Anti-Atomkraft-Aktivist aus dem niedersächsischen Wolfenbüttel keine Zweifel daran lässt, wie sein politisches Koordinatensystem aussieht. Jan Philipp Albrecht lobt die Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg. "Die nationalen Parlamente können viel vom Europa-Parlament lernen", glaubt der Europa-Politiker. Die Abwesenheit von Regierungs- und Oppositionsfraktionen ist für den Grünen ein großer Vorteil, weil vieles nicht so festgefahren sei wie zum Beispiel im Bundestag.
Aber weil am Ende immer noch viel Macht in den Händen der Mitgliedsstaaten liegt, ist Albrecht nicht nur bei der re:publica Stammgast in Berlin, wo er mit seiner Frau in einer WG wohnt. Seinen Wahlkreis, der weite Teile Norddeutschlands umfasst, beackert er dagegen aus Hamburg, wo der Jungpolitiker eine WG gefunden hat, die "so gar nichts mit Politik am Hut hat".
Die Pendelei zwischen Brüssel, Wahlkreis und Berlin dürfte für ihn auch in den kommenden fünf Jahren weitergehen. Eine weitere Legislaturperiode im Europa-Parlament ist Albrecht nach aktuellem Stand der Umfragen sicher.