Mahner aus dem Silicon Valley
11. Oktober 2014Reichtum und Macht konzentrieren sich zusehends bei jenen, die über die ganz großen Netzwerke verfügen - die "Sirenenserver", wie Jaron Lanier die neue Klasse gigantischer Rechenzentren in seinem Buch "Wem gehört die Zukunft?" nennt. Global agierende Giganten wie Google, Facebook, aber auch riesige Online-Stores, Banken und Versicherungen haben, so der amerikanische Informatiker, längst für eine bedenkliche Schieflage gesorgt. Denn sie hätten entdeckt, dass die von Usern kostenlos zur Verfügung gestellten Daten eine lukrative Ware sind. Die Digitalisierung habe das gesamte Wirtschaftsleben bereits nachhaltig verändert, perspektivisch könne sie, so fürchtet Lanier, weitere Branchen vernichten und insbesondere den Mittelstand empfindlich treffen. Seine Lösung des Problems lautet: jeder, der im Internet Wert schafft, solle dafür auch bezahlt werden.
Konstrukteur der digitalen Welt
Jaron Lanier ist 54 Jahre alt und gilt als einer der wichtigsten Konstrukteure der digitalen Welt. Er lehrt an der Berkeley University in Kalifornien, arbeitet als Forscher für Microsoft Research und wurde für seine Erfindungen und Entwicklungen mit zwei Ehrendoktortiteln ausgezeichnet. Sein 2013 in Deutschland erschienenes Buch "Wem gehört die Zukunft?", unlängst mit dem Goldsmith Book Prize der Harvard University ausgezeichnet, zählt zweifellos zu einer der wichtigsten internetkritischen Veröffentlichungen der letzten Jahre. Geschrieben von einem Mann, der dieses Internet im Zuge einer bemerkenswerten Karriere maßgeblich mit entwickelt hat.
Am Sonntag hat er nun auch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In seiner Laudatio in der Frankfurter Paulskirche sagte Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments und gelernter Buchhändler, über Larnier: "Seine Kritik ist nicht kulturpessimistisch, schon gar nicht technologiefeindlich, sondern er mahnt aus der Position eines kenntnisreichen, zur Sache selbst aber loyalen Oppositionellen." Seine Überlegungen seien dadurch besonders erhellend. Mit großer Vehemenz verteidige er die Einzigartigkeit des Menschen im digitalen Zeitalter.
1960 wurde Jaron Lanier in New York geboren, als Kind zweier Holocaust-Überlebender. Bald darauf zog die Familie nach Texas, in die Nähe von El Paso. Jaron ging zur Schule, lernte Klavier spielen, hörte Bach, mochte die Bilder von Hieronymus Bosch und aß gerne Schokolade. Als er zehn Jahre alt war, starb die Mutter bei einem Autounfall. Der Junge wurde krank, zog mit dem Vater öfter um und fand schließlich einen besonderen Freund. Der Astrophysiker Clyde Tombaugh - er hatte 1930 den Planeten Pluto entdeckt - riet dem 14-Jährigen, der gerade die Schule abgebrochen hatte, an der New Mexico State University Mathematik- und Chemie-Seminare zu besuchen. Jaron Lanier gefiel die Idee, er ging hin, durfte bleiben und lernte programmieren.
Vielseitig begabt
1983 entwickelte er sein erstes Computerspiel mit dem schönen Namen "Moondust", das ihm eine Anstellung bei Atari einbrachte. Zwischendurch hatte er in New York ein Jahr lang Kunst studiert und über die Jahre immer neue Instrumente spielen gelernt. Heute besitzt Jaron Lanier eine Sammlung von mehr als 1000 seltenen alten Musikinstrumenten. Er hat mit Philip Glass, Yoko Ono, Sean Lennon und Ornette Coleman gespielt, Filmmusiken komponiert sowie eigene Gemälde, Zeichnungen und Installationen in zahlreichen Museen der USA und in Europa ausgestellt.
In Kalifornien lernte er in den 1980er Jahren auch Tom Zimmerman kennen. Der hatte einen der ersten virtuellen Simulationshandschuhe konstruiert. Mit ihm und noch ein paar anderen gründete Jaron Lanier 1985 die Firma VPL Research. Sie wollten weitere Technologien für die noch junge virtuelle Welt entwickeln. Und das gelang. Lanier konstruierte virtuelle Kameras, entwickelte 3D-Grafiken für Kinofilme, den ersten Avatar und trieb außerdem die Entwicklung von Internet-basierten Netzwerken voran. Ein Freak, ein Nerd, ein ziemlich schräges Genie mit Hang zum Übergewicht und schulterlangen Rasta-Locken.
Irgendwann, noch vor Edward Snowdens Enthüllungen, hat er realisiert, dass niemand mehr erkennen kann, wohin all die Userinformationen gehen und was mit ihnen geschieht. Und dass die Umsonst-Kultur des Internets ganze Branchen vernichtet. Seitdem setzt sich Jaron Lanier vehement mit der Übermacht der Daten und der vermeintlichen Ohnmacht der Konsumenten auseinander. Sein gern bemühtes Beispiel ist Instagram, eine kostenlose Foto- und Video-Sharing-App. 2010 wurde das Unternehmen mit 13 Mitarbeitern und ohne Business-Plan gegründet, zwei Jahre später hat es Facebook für eine Milliarde Dollar gekauft.
Auf der Frankfurter Buchmesse warnte er aber nicht nur vor der Datensammelwut durch Internetkonzerne und Geheimdienste. Lanier kritisierte auch die Nutzer sozialer Netzwerke. Wer seine Daten Internetriesen wie Facebook und Google kostenlos überlasse, trage dazu bei, dass sich der Reichtum in den Händen weniger Milliardäre konzentriere. Das untergrabe die Demokratie. Denn: "Wissen ist Macht."
Ausgezeichnet
Am 12. Oktober wird Jaron Lanier in der Frankfurter Paulskirche der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Weil dieser Pionier der digitalen Welt - in den Worten der Jury - "erkannt hat, welche Risiken diese für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt". Eindringlich weise Jaron Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert würden.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist mit 25.000 Euro dotiert, die Laudatio hält Martin Schulz (SPD), der Präsident des Europäischen Parlaments.