"Europa ist wieder da"
13. September 2017Jean-Claude Juncker hat seine emotionalen Momente. In seiner "Regierungserklärung" zur Lage in der Europäischen Union zog er alle Register: "Mein ganzes Leben lang habe ich das europäische Projekt gelebt (…), in guten wie in schlechten Zeiten". Er sei als Premierminister, als Chef der Eurogruppe und schließlich als Kommissionspräsident immer dabei gewesen, bei den Gipfeltreffen in Maastricht, in Amsterdam und in Nizza. Er habe mit Europa gelitten und gebangt: "Es gibt keine Liebe ohne Enttäuschung".
Aus der Tiefe seiner Erfahrungen beschreibt also Juncker die Situation der EU und seinen Blick auf die Zukunft, und sein Urteil ist positiv: "Wir haben wieder Wind in den Segeln", die Arbeitslosigkeit sei gefallen, es gebe 235 Millionen Jobs. Jetzt sei der Zeitpunkt für ein paar große Schritte nach vorn, für den nötigen positiven Wandel.
Migration
"Im vergangenen Jahr haben unsere Mitgliedsländer 720.000 Flüchtlinge aufgenommen", führt der Kommissions-Chef aus. Und lobt die Großzügigkeit der Regierung in Rom: "Italien hat die Ehre Europas im Mittelmeer gerettet". Die Staaten an der Frontlinie aber dürften nicht allein gelassen werden, und so kritisiert Jean-Claude Juncker auch die osteuropäischen Länder, die sich der Solidarität verweigerten.
Inzwischen aber sei es gelungen, den Zustrom über die zentrale Mittelmeerroute um rund 80 Prozent zu senken. Es folgt der inzwischen bekannte Strauß von Maßnahmen: Kontrolle der Außengrenzen und mehr Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, vor allem in Afrika. Gleichzeitig dürfe Europa keine Festung werden. Man müsse weiter offen sein für genuine Flüchtlinge und legale Wege für Migranten öffnen. Wie man weiß, gibt es zu dieser Quadratur des Kreises in der Flüchtlingspolitik bei einigen EU-Regierungen unterschiedliche Auffassungen.
Blick nach Osteuropa
"Europa muss gleichzeitig im Westen und im Osten atmen", sagt Juncker und mahnt, dass Rumänien und Bulgarien endlich Mitglieder der Schengen-Zone werden müssten. Er betont auch, dass der Beitrittsprozess für die Balkanländer voran getrieben werden müsse. "Die EU wird mehr als 27 Mitgliedsländer haben" , so sein Blick in die Zukunft.
Aber der Kommissionspräsident mahnt deutlich, dass die Rechtstaatlichkeit, neben Freiheit und der Chancengleichheit, unter den europäischen Werten an erster Stelle steht. Dazu gehöre, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofes respektiert werden, ein Seitenhieb auf Polen und Ungarn. "Rechtstaatlichkeit gilt nicht wahlweise, sie ist eine Verpflichtung", schreibt Juncker Warschau und Budapest ins Stammbuch. Die EU-Kommission hat bereits angekündigt, das Verfahren nach Artikel 7 gegen Polen voranzutreiben.
Die Türkei wird kein Mitgliedsland
Wegen der Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit schließt Juncker auch einen Beitritt der Türkei auf absehbare Zeit aus. Sie habe sich in großen Sprüngen von Europa entfernt: "Lasst unsere Journalisten frei", fordert der Kommissionspräsident unter dem Beifall des Saales, "...hört auf, unsere Regierungen Faschisten und Nazis zu nennen".
Mit solchen Beleidigungen ziehe Ankara selbst die Zugbrücke zu Europa hoch. Andererseits betont der Kommissions-Chef, bleibe die Hand der EU weiter ausgestreckt für die Menschen in der Türkei, die für europäische Werte und Demokratie kämpfen. Damit liegt er auf einer Linie mit der Mehrheit der EU-Mitgliedsländer: Scharfe Worte in Richtung von Präsident Erdogan, anhaltender Stillstand bei den Beitrittsgesprächen aber noch kein Zuschlagen der Tür .
Die Eurozone erweitern und reformieren
Alle Nicht Euro-Länder sollten dem Euro beitreten, schlägt Jean-Claude Juncker vor, und spricht sich damit deutlich gegen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten aus. Und weil einige osteuropäische Länder noch nicht so weit sind, solle es "Vor-Beitrittshilfen" geben, um sie an die Konvergenzkriterien heranzuführen. Der Kommissionspräsident will erkennbar alle Mitgliedsländer zusammen halten, anders als es zuletzt die Regierungen in Berlin und Paris diskutiert haben.
Auch Junckers Vorschläge zur Reform der Eurozone setzen sich von den Ideen von Macron und Merkel ab. Er will zwar auch einen neuen Wirtschafts- und Finanzminister, aber der solle aus den Reihen der Kommission kommen, und nicht etwa von den Euro-Regierungen gewählt werden. "Wir brauchen keine parallelen Strukturen".
Dieser Eurozonen-Minister solle künftig die Entwicklung in den Mitgliedsländern beobachten und bei Krisen eingreifen können. Anders als der französische Präsident vorschlägt, der einen echten Chef der Eurozone mit eigenem Etat will und ihn als Kopf einer sich schneller integrierenden Gruppe von EU-Ländern sieht.
Brexit ist nicht die Zukunft Europas
Die Rede des Kommissionspräsidenten kommt schließlich nicht ganz ohne kurze Erwähnung des Brexit aus. Das sei ein tragischer Moment in unserer Geschichte, sagt Juncker: "Wir bedauern (den Brexit) und ich glaube, ihr werdet ihn auch bereuen", wendet er sich direkt an Großbritannien. Aber ihr Ausstieg bestimme nicht die Zukunft Europas. Die will er auf einem Sondergipfel am 30. März 2019 bekräftigen, am Tag danach, an dem die EU als Union der 27 weiter machen werde.
Stattfinden soll das Post-Brexit-Treffen in Rumänien, turnusmäßig im Frühjahr 2019 im Vorsitz des Europäischen Rates. Juncker schlägt das historisch multi-europäische Sibiu, auch Herrmannstadt genannt, als symbolisch bedeutsamen Veranstaltungsort vor.
EU-Reformen und Blick nach vorn
Reformen will der Kommissionspräsident bei Entscheidungen im Europäischen Rat: Künftig solle in allen Fragen mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Damit setzt er sich in direkten Gegensatz zur deutschen Bundeskanzlerin, die etwa in der Außenpolitik unbedingt am Prinzip der Einstimmigkeit festhalten will.
Zu den diversen Reformvorhaben gehören in der Handelspolitik eine Stärkung der Investitionskontrollen gegenüber China, eine Forderung die vor allem aus Frankreich und Deutschland kommt. Beim Binnenmarkt soll sich die Entsenderichtlinie verändern: Überall müsse die gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden, was einer Forderung von Präsident Macron entspricht.
Und schließlich: "Lasst uns gemeinsam die Anker lichten und in See stechen", fordert der EU-Kommissionspräsident die Mitgliedsländer auf. Schließlich wisse niemand, wie lange die guten Winde das europäische Schiff voran tragen würden. Nachdem die Populisten in einigen EU-Länder zurückgeschlagen wurden, haben Trump und Brexit die Beliebtheit Europas erhöht, so zeigen die Umfragen. Lasst uns die Stunde nutzen, ist die Botschaft die der überzeugte Europäer Jean-Claude Juncker den Mitgliedsländern mit auf den Weg gibt.