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Jenseits des Booms

Christoph Ricking11. August 2015

Trotz des beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs leben in China noch immer Millionen Menschen in großer Armut. Der Aufsatz einer Schülerin wirft ein Schlaglicht auf das untere Ende der chinesischen Gesellschaft.

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China Armut Müllkippe in Hefei
Bild: STR/AFP/Getty Images

"Tränen" heißt der Schulaufsatz, der in diesen Tagen ganz China bewegt. Geschrieben hat ihn Muku Yiwumu, ein 12-jähriges Mädchen aus dem Kreis Liangshan in der Provinz Sichuan. Darin beschreibt sie ihre Trauer und Hilflosigkeit nach dem Tod ihrer Eltern. Vor vier Jahren sei ihr Vater gestorben, schreibt Yiwumu, die zur Minderheit der Yi gehört. Dann sei auch ihre Mutter krank geworden. "Wir hatten kein Geld und ihr ging es nicht besser", schreibt das Mädchen. Auch im Krankenhaus konnte niemand der Mutter helfen. "Ich brachte sie nach Hause und kochte für sie. Als das Essen fertig war, war sie schon tot", schreibt die Schülerin. "Es heißt, es gebe einen Ort, der Sonnen-und-Mond-See genannt wird. Sein Wasser besteht aus den Tränen einer Tochter, die ihre Mutter vermisst."

Welle des Mitgefühls

Eine Lehrerin des Mädchens stellte den Aufsatz ins Internet und nun diskutiert das ganze Land über Armut, die es trotz glitzernder Hochhausfassaden und beispiellosen Wirtschaftswachstum in China immer noch gibt. "Der traurigste Aufsatz aller Zeiten", kommentieren viele Nutzer des chinesischen Twitter-Pendants, Sina Weibo. "Es bringt mich um, wenn ich sehe, dass diese Menschen immer noch unter Armut leiden in einer zunehmend wohlhabenden Gesellschaft", schreibt ein Nutzer. "Armutsbekämpfung ist eine harte Nuss, aber anstatt einfach nur Geld zu verteilen, sollte die Regierung Wege finden, den Kampf effektiver zu machen."

Auch Kritik an den Olympischen Spielen, die 2022 in Peking stattfinden sollen, kam auf. Die von der Kommunistischen Partei kontrollierte Zeitung "Global Times" stellte klar, dass die Regierung nur 3,9 Milliarden Yuan in die Spiele investiert, zwischen 2010 und 2013 jedoch über acht Milliarden Yuan in die Armutsbekämpfung gesteckt habe.

China Armut Wanderarbeiter
Noch immer leben 70 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze.Bild: AP

Zwar gibt es mittlerweile Zweifel daran, dass das Mädchen den Aufsatz in dieser Intensität allein geschrieben hat – offenbar hatte die Lehrerin nachgeholfen. Jedoch erzeugte der Text eine Welle der Solidarität. Auf einer Webseite wurde zu Spenden aufgerufen. Rund 900.000 Yuan, etwa 130.000 Euro, seien für die Kinder im Kreis Liangshan zusammengekommen, berichtet die Webseite Sina. Die Gegend gehört zu einer der ärmsten Chinas. Die Bergregion ist bekannt für Drogenschmuggel und eine hohe HIV-Infektionsrate. Über 20.000 Menschen dort sind mit dem Virus infiziert, wie die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtet.

70 Millionen Menschen leben in absoluter Armut

Glitzernde Hochhausfassaden dominiern Chinas Städte, Autobahnen, Flughäfen und Schnellzugstrecken wurden in den vergangenen Jahren aus dem Boden gestampft. In Peking, Shanghai oder Guangzhou sind die Straßen verstopft, nicht selten mit Autos teurer deutscher Marken. Und dennoch: China ist noch immer ein Schwellenland. Laut Weltbank lebt ein Mensch in absoluter Armut, wenn ihm weniger als 1,25 Dollar pro Tag zur Verfügung stehen. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes leben in China etwa 70 Millionen Menschen immer noch in solch absoluter Armut.

Diese Menschen leben zum Großteil auf dem Land. Das Einkommen eines Städters liegt nach Daten des Nationalen Statistikamts knapp dreimal höher als das eines Dorfbewohners. 592 Regionen hat die chinesische Regierung als "verarmt" definiert, fast alle liegen im Westen des Landes oder in Zentralchina. Es handelt sich meist um in Berg- oder Wüstenregionen mit extremem Klima, wo jede Ernte dem Boden mühsam abgerungen werden muss. Häufig seien ethnische Minderheiten von der Armut betroffen, sagt Zhang Ming, Politikwissenschaftler an der chinesischen Volksuniversität. Oft seien diese Menschen schlecht gebildet, viele würden kein Hochchinesisch beherrschen. "Wenn sie kein Mandarin sprechen, haben Sie einfach wenige Chancen. Sie finden keinen Job und können auch keine Geschäfte mit Han-Chinesen machen", sagt Zhang. "Leider ist die bilinguale Bildung dort sehr schwach." Auch Yiwumu gehört zu einer ethnischen Minderheit.

Extreme Ungleicheit

Gegensätze in China Symbol
Die Schere zwischen arm und reich klafft weit auseinander.Bild: picture-alliance/ dpa

Dabei hat China im Kampf gegen Armut beispiellose Erfolge vorzuweisen. Seit Beginn der Wirtschaftsreformen Anfang der 1980er Jahre hat die chinesische Regierung nach eigenen Angaben rund 620 Millionen Menschen aus tiefster Armut befreit. Die Weltbank spricht von 500 Millionen Menschen. Aus einem der ärmsten Länder der Welt wurde die mittlerweile zweitgrößte Volkswirtschaft hinter den USA. Waren zu Maos Zeiten fast alle gleich arm, ist der Reichtum heute extrem ungleich verteilt. 430 Dollar-Milliardäre gibt es in China, nur in den USA sind es noch mehr. Nach einer Studie der Universität Peking besitzt etwa ein Prozent der Chinesen ein Drittel des gesamten Vermögens, während sich das ärmste Viertel ein Prozent des Vermögens teilen muss. "Das Problem ist, dass die Macht [in China] zu konzentriert ist", sagt Zhou Xiaozheng, Professor für Soziologie an der chinesischen Volksuniversität in Peking. "Egal wie arm eine Region ist, oder egal, ob man auf dem Land oder in einem Dorf wohnt, solange man die Macht hat, wird man trotzdem relativ reich."

Die Ungleichheit von Macht und Geld erzeugt soziale Spannungen. Und die bedrohen die gesamte Gesellschaft, egal ob arm oder reich.