"Jenseits des Nationalstaates"
3. Juni 2003Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen ihren verblüfften Lesern von jener Loyalitätsbekundung gegenüber Bush Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpräsident die kriegswilligen europäischen Regierungen hinter dem Rücken der anderen EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebensowenig den 15. Februar 2003, als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten. Die Gleichzeitigkeit dieser überwältigenden Demonstrationen - der größten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen.
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Kein Zweifel, die Macht der Gefühle hat Europas Bürger gemeinsam auf die Beine gebracht. Aber gleichzeitig hat der Krieg den Europäern das längst angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Außenpolitik zu Bewußtsein gebracht. Wie in aller Welt hat der burschikose Bruch des Völkerrechts auch in Europa einen Streit über die Zukunft der internationalen Ordnung entfacht. Aber uns haben die entzweienden Argumente tiefer getroffen. Über diesem Streit sind die bekannten Bruchlinien nur um so schärfer hervorgetreten. Die kontroversen Stellungnahmen zur Rolle der Supermacht, zur künftigen Weltordnung, zur Relevanz von Völkerrecht und UN haben die latenten Gegensätze offen ausbrechen lassen.
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Auch im Brüsseler Verfassungskonvent zeigt sich der Gegensatz zwischen den Nationen, die eine Vertiefung der EU wirklich wollen, und denen, die ein verständliches Interesse daran haben, den bestehenden Modus des intergouvernementalen Regierens einzufrieren oder bestenfalls kosmetisch zu verändern. Nun kann der Gegensatz nicht länger überspielt werden.
Die künftige Verfassung wird uns einen europäischen Außenminister bescheren. Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine gemeinsame Politik einigen?
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Einstweilen sind wohl nur die kerneuropäischen Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualitäten zu verleihen. Was tun, wenn sich nur diese Länder auf eine Definition "eigener Interessen" einigen können? Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, müssen diese Länder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der "verstärkten Zusammenarbeit" Gebrauch machen, um in einem "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen. Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder - zunächst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen können. Im Rahmen der künftigen europäischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. Vorangehen heißt nicht ausschließen. Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muß - wie so oft - die Lokomotive sein.
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In dieser Welt zahlt sich eine Zuspitzung der Politik auf die ebenso dumme wie kostspielige Alternative von Krieg und Frieden nicht aus. Europa muß sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sollte es seinen Einfluß bei der Gestaltung des Designs einer künftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.
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Auf Unverbindliches kann man sich leicht einigen. Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten und dialogfähigen Europas vor. Wir begrüßen das Europa, das in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische Lösungen für zwei Probleme gefunden hat. Die EU bietet sich schon heute als eine Form des "Regierens jenseits des Nationalstaates" an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte. Auch die europäischen Wohlfahrtsregime waren lange Zeit vorbildlich. Auf der Ebene des Nationalstaates sind sie heute in die Defensive geraten. Aber hinter die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit, die sie gesetzt haben, darf auch eine künftige Politik der Zähmung des Kapitalismus in entgrenzten Räumen nicht zurückfallen. Warum sollte sich Europa, wenn es mit zwei Problemen dieser Größenordnung fertig geworden ist, nicht auch der weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen?
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Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust - die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten Länder verstrickt hat - gezeichnet. Die selbstkritischen Auseinandersetzungen über diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erhöhte Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und der körperlichen Integrität spiegelt sich unter anderem darin, daß Europarat und EU den Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.
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Mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und Kolonialgeschichte haben die europäischen Mächte auch die Chance erhalten, eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen. So konnten sie lernen, aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen, die für die Gewalt einer oktroyierten und entwurzelnden Modernisierung zur Rechenschaft gezogen werden. Das könnte die Abkehr vom Eurozentrismus befördert und die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik beflügelt haben.
(Der Originaltext erschien in der "FAZ" am 31.5.2003)