"Solschenizyn wird man in 200 Jahren noch kennen"
11. Dezember 2018Alexander Solschenizyn ist so groß, dass jeder in Russland aus ihm schöpfen kann. Jeder, der seine Werke liest, schafft sich seinen eigenen Solschenizyn. Das gilt auch für mich. Für mich war Solschenizyn ein Gott. Kein Idol, kein literarischer Star, kein furchtloser Kämpfer gegen politisches Unrecht, wie für viele andere - nein, ein Gott. Ich habe ihn angebetet, auch wenn er immer bei mir war: auf meiner Fensterbank.
Eines Tages sah ich in der Werkstatt zweier Moskauer Bildhauer eine kleine Büste von ihm stehen, aus rot gebranntem Ton. Der Kopf ruhte auf Büchern, die mit Stacheldraht umwickelt waren. Es war Mitte der 1970er Jahre, die dunkelste und heroischste Zeit im Leben des Schriftstellers, als er sich vor seiner Ausweisung in den Westen mit dem mächtigen Sowjetstaat anlegte. Ich flehte bei den Bilderhauern um die Büste. Als ich sie nach Hause brachte, gab es Ärger: "Bringe sie zurück!", sagten die Eltern. Mein Vater war ein hochrangiger sowjetischer Diplomat und meine Mutter fürchtete um seine Karriere, obwohl sie Solschenizyns einige Jahre davor erschienenen Roman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" schätzte. Wir einigten uns darauf, dass die Büste in meinem Zimmer auf dem Fensterbrett bleiben durfte. Falls Gäste fragten, wer das sei, sollte ich "Beethoven" sagen. So überdauerte "Beethoven" bei mir all die Jahre der Sowjetherrschaft.
Zwei großartige Bücher
Später schadete Solschenizyn selbst seinem göttlichen Ruf. Trotzdem ist er aus dem Pantheon der einflussreichsten russischen Schriftsteller nicht wegzudenken. Denn mit seinem ersten Roman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" brach er mit dem Tabu-Thema der stalinistischen Lager über die sowjetische Literatur herein. Er baute die Geschichte geschickt auf, indem er ausgerechnet einen glücklichen Tag seines Helden im Gulag beschrieb. Ich erinnere mich gut, wie Freunde meines Vaters - sowjetische Diplomaten - am Esstisch darüber stritten und sagten, das Buch habe der Sowjetunion großen Schaden zugefügt. In der Tat war "Iwan Denissowitsch" eine Verurteilung des Stalinismus.
Noch viel größeren Einfluss nahm Solschenizyn auf die gesamte europäische Politik, als er im Westen das Buch "Der Archipel Gulag" veröffentlichte. Dieses dokumentierende Werk über die Schrecken der sowjetischen Lager steht den "höllischen" Kapiteln in Dantes "Göttlicher Komödie" nicht nach. Ich las es nächtelang auf einem Hocker in Warschau bei den Eltern meiner polnischen Frau und hatte Angst, es nach Moskau mitzunehmen. Es war eine echte Bombe, die letztlich die lange Begeisterung der europäischen Linken für den Eurokommunismus - einen gemäßigten, aber dennoch pro-sowjetischen Kommunismus - zunichte machte. Diese beiden großartigen Bücher genügen, um Solschenizyns Genialität und Bedeutung zu erkennen.
Utopie einer "Russischen Welt"
Mit dem Rest sieht es etwas komplizierter aus. Bereits in der Erzählung "Matrjonas Hof" schlagen ideologische Töne jener konservativen "Potschwennitschestwo"-Strömung ("Bodentümlertum") an, die zwar gegen die in der UdSSR herrschende Ideologie war, sich aber gleichzeitig gegen moderne westliche Werte stellte. Die Aufdeckung der sowjetischen Verbrechen ging bei Solschenizyn zunehmend mit der Ablehnung der liberalen europäischen Alternative einher. Angeboten wurde nur noch der Weg in die neue Utopie einer "Russischen Welt".
Solschenizyn, von den Sowjets einst in den Westen abgeschoben, stellte sich immer mehr gegen die moderne westliche Demokratie. Pluralismus war für ihn ein Schimpfwort. Er orientierte sich an christlichen Tugenden, so wie er sie verstand. Wahrscheinlich war er kein großer Philosoph, der in die Geheimnisse der ambivalenten menschlichen Natur vordringt. Er schlug vor, die Menschen mit alten Methoden - einer Rückkehr zu einem "sittlichen Leben" - zu heilen.
An diesem Punkt wurde er von Präsident Putin vereinnahmt. In einem privaten Gespräch nach Solschenizyns Rückkehr aus dem Exil waren sich beide über eine Abkehr Russlands vom westlichen Weg einig. Der Autor des Buches "Der Archipel Gulag" - mit dem unsterblichen Lager-Gebot "Glaube nicht, fürchte nicht, bitte nicht" - glaubte dem ehemaligen KGB-Oberst, Mitarbeiter der Unterdrückungsorgane, der sich aufmachte, eine "Russische Welt" nach eigener Manier zu errichten. Das sorgte bei der Opposition für einen Sturm der Entrüstung - und erfreute alle Verfechter der russischen Großmacht.
Darf ein großer Schriftsteller Fehler machen? Wirklich ein großer?, fragen manche. Jemand könnte sagen, Solschenizyn habe auch viele kleine Bücher geschrieben, wie das historische Epos "Das rote Rad", eine Romanserie über die Revolution. Ja, und seine hartnäckigen archaischen Experimente mit der russischen Sprache waren manchmal lächerlich. Aber die Bedeutung eines Schriftstellers wird von seinen besten Büchern bestimmt. Solschenizyn ist der letzte russische Schriftsteller, mit dem die große moralische Tradition in der russischen Literatur endet. In jedem Fall sind seine Persönlichkeit und seine Werke eine wichtige Bühne für Kontroversen über Russland. Man wird ihn in 100 und auch noch in 200 Jahren kennen.
Aus dem Russischen übersetzt von Markian Ostaptschuk.
Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, ist ein russischer Schriftsteller. 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. International bekannt wurde er 1990 mit dem Roman "Die Moskauer Schönheit", der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt in Moskau und äußert sich regelmäßig kritisch zur Politik Wladimir Putins.