Angstfaktor Religion
20. Juli 2018Pater Nikodemus Schnabel nimmt kein Blatt vor dem Mund: "Ich verstehe jeden, der in Jerusalem an Religion verzweifelt. Jerusalem ist der beste Ort, um Atheist zu werden", sagt er im DW-Gespräch.
Schnabel ist Sprecher und ehemaliger Leiter der deutschsprachigen Benediktiner-Abtei Dormitio auf dem Zionsberg in Jerusalem. Gemeinsam mit mehreren religiösen Vertretern nahm er in Bonn an einem DW-Akademie Medientraining zu "Religion und Medien" teil.
Der Ordensgeistliche kann die wachsende Kritik an der politischen Vereinnahmung von Religion "absolut nachvollziehen". Schnabel stellt klar: "Religion ist Gottsuche, nicht Identitätssuche". Sie dürfe nicht für "billige Identitätsantworten" missbraucht werden.
Schnabel weiß, wovon er spricht: Am Donnerstag verabschiedete das israelische Parlament das umstrittene Nationalstaatsgesetz, das den jüdischen Charakter des Landes stärken soll. Dazu gehört unter anderem die Festlegung von Hebräisch als offizieller Nationalsprache und die Herabstufung der bisherigen Amtssprache Arabisch auf einen Sonderstatus. "In Jerusalem sind die Religionen wirklich auch in ihrer ganzen Abscheulichkeit präsent", sagt er. "Ich nenne sie gerne die Hooligans der Religionen, die dann leider das Bild von Religion an sich bestimmen."
Schafft Religion mehr Probleme als sie löst?
Eine niederschmetternde Einsicht, die auch von anderen religiösen Oberhäuptern geteilt wird. Zum Beispiel im christlich-orthodox geprägten Georgien: "Junge Leute denken oft, dass Religion mehr Probleme schafft als löst", erzählt Rusudan Gotziridze. "Das ist leider wahr". Als Baptistin gehört die Bischöfin in ihrem Land einer religiösen Minderheit an, wie auch die muslimische Bevölkerung.
Rusudan Gotziridze setzt sich mit ihrer Kirche für Frauen- und Minderheitenrechte ein und tritt der historischen Islamfeindlichkeit im Land entgegen. Sie gehört zu der wachsenden Zahl religiöser Oberhäupter, die mehr Einsatz für Religionsfreiheit und Menschenrechte von ihresgleichen fordern. Und wirkt deshalb mit in dem von der georgischen Regierung einberufenem Rat der Religionen, in dem Differenzen zwischen Glaubensgemeinschaften offen angesprochen werden.
Doch was nützt der Dialog Religionen, wenn er von der Orthodoxen Kirche, der 84 Prozent der Bevölkerung angehören, boykottiert wird? "Die Orthodoxe Kirche will nicht mitmachen, wenn sie mit den anderen Glaubensgemeinschaften auf einer Stufe steht", erklärt Gotziridze. Dies trage zu einer intoleranten Atmosphäre im Land bei.
"Religiöse Oberhäupter müssen mehr für den Frieden tun"
Je mehr religiöse Vorschriften den Alltag erschweren und der politische Missbrauch von Religion Konflikte schürt, desto größer wird auch das Bedürfnis, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Eine der zahlreichen Initiativen ist die Ausrufung des"International Day of Living Together in Peace", der in diesem Jahr erstmals am 16. Mai begangen wurde.
Die Initiative für den am 8. Dezember 2017 von der UN-Vollversammlung beschlossenen Gedenktag ging von der holländischen Organisation "Internationale Alawiyya Soefi Vereniging" aus. Ihr Vorsitzender Aleaddine Touhami will damit ein Zeichen gegen die politische Vereinnahmung von Religionen setzen.
Der Vorsitzende des Nationalen Friedensrates aus Ghana, Emmanuel Asante, kennt diese zähe Friedensarbeit aus der Praxis. "Religiöse Oberhäupter müssen mehr für den Frieden tun, als dies bis jetzt der Fall ist", räumt er ein.
Sein jüngstes Projekt: "Peace Clubs" an Grundschulen in Ghana, wo Kinder lernen, friedlich in Gemeinschaft miteinander zu leben. Trotz aller Selbstkritik ist Asante als Methodist von dem Friedenspotenzial aller Religionen zutiefst überzeugt. Versöhnung, Vergebung, Respekt und Dialog – in ihrem Kern strebten alle Religionen nach Frieden.
Selbstkritik ist besser als Selbstmitleid
Nikodemus Schnabel sieht dies genauso. Mehr noch: Trotz aller Gewalttaten, die im Namen der Religion begangen werden, wäre eine Welt ohne Religion für ihn keine bessere Perspektive. "Eine Welt ohne Religion wäre eine bessere Welt - dieser Theorie widerspreche ich vehement", sagt er. Sein Argument: "Klar, wenn es keinen Fußball gäbe, dann gäbe es auch keine Fußballhooligans, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Welt ohne Fußball eine bessere wäre."
Selbstkritik, so scheint es, ist das Gebot der Stunde. "Es ist bequem, immer mit dem Finger auf andere zu zeigen", sagt Schnabel. "Die große Hausaufgabe aller Religionen ist, gegenüber den Extremisten in den eigenen Reihen vorzugehen." Für den Benediktiner, der seit mehr als zehn Jahren in Jerusalem lebt, ist Selbstkritik besser als Selbstmitleid. "Es gibt nichts anstrengenderes, als wenn Christen immer über Christenverfolgung, Juden über Antisemitismus und Muslime immer über Islamophobie reden wollen".
Aktivist Aleaddine Touhami nennt dies "geistige Globalisierung". Unterschiede zwischen den Konfessionen sind für ihn mittlerweile zweitrangig, ihm geht es um die gemeinsame Arbeit an Friedensprojekten. "Ehrlich gesagt ist es mir egal, ob ich mit Christen, Muslimen oder Atheisten zusammenarbeite"", erklärt der junge Niederländer mit marokkanischen Wurzeln. "Diese religiösen Kategorien finde ich überholt."