Mehr Chancengleichheit durch Inklusion
12. September 2013Deutsche Welle: Herr Jerg, Sie sind neben ihrer Professur für Sozialarbeit und Pädagogik auch noch "Enthinderungsbeauftragter" der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg – ihre eigene Namensschöpfung. Warum haben sie den allgemein üblichen Begriff "Behindertenbeauftragter" abgelehnt?
Jo Jerg: Als ich 2000 dieses Amt an der Hochschule übernommen habe, war mir wichtig, dass der Titel verändert wird. "Behindertenbeauftragter" ist ein defizitärer Begriff, der sich auf Personen bezieht. Das ist ein Denksystem. Da geht es um Behindertenbeauftragungen. Bei Enthinderungsbeauftragungen liegt eine andere Perspektive in der Aufgabenstellung. Es geht um die Enthinderung in den Strukturen. Und das verweist schon mal auf eine aktuelle Diskussion der Inklusion, dass man diese Trennung zwischen normal und behindert überwinden muss und stattdessen ein Verständnis entwickelt, dass man Chancengleichheit und Ungleichheit in den Vordergrund stellt, um Barrieren in der Gesellschaft und in Institutionen zu überwinden.
Ist es das, was Sie in ihren Vorträgen ausdrücken wollen, wenn Sie sagen, "Inklusion beginnt in den Köpfen"?
Ja, und da stoße ich immer auf große Widerstände, weil viele sagen: Das ist gut gedacht, aber im Grunde genommen sind es doch die Rahmenbedingungen, die zählen. Aber die Rahmenbedingungen werden von den Menschen gemacht. Wir schaffen Ungleichheit durch unsere Strukturen. Die sind nicht einfach gegeben, die stellen wir tagtäglich her, durch unsere Gesetze, durch unsere Vorgaben in Einrichtungen und in Betrieben.
Nehmen Sie zum Beispiel die Frage, wer geht in einen Regelkindergarten und wer nicht. Dieser Frage geht ja voraus, welche Behörde, Regierung oder Verwaltung entscheidet das? Und wenn Sie die Bundesländer anschauen, dann gibt es Bundesländer, in denen fast alle Kinder in den Regelkindergarten gehen und in anderen eben nicht. Das beginnt damit, wie wir über das Zusammenleben in der Gesellschaft denken. Wird die Tür geöffnet, zum Beispiel in der Kita? Da gibt es eben geöffnete und geschlossene Türen. Und das ist eine Frage des Denkens.
Meist wird unter Inklusion das gemeinsame Unterrichten oder Arbeiten von Behinderten und Nicht-Behinderten verstanden? Wo findet überall Inklusion statt und wo wäre sie nötig?
Sie haben recht, die gesellschaftliche Diskussion über Inklusion kreist vor allem um das Thema Schule und Bildungseinrichtungen. Aber eigentlich geht es darum, ein anderes Verständnis zu entwickeln. Das eine ist, dass alle Lebensbereiche davon betroffen sind. Also zum Beispiel sollten Menschen mit Behinderungen auch an der Politik beteiligt werden. Also raus aus dem Verständnis von einer nur auf bestimmte Bereiche fixierten Inklusion. Und der zweite sehr wichtige Teil, der noch nicht überall angekommen ist: Inklusion ist nicht nur ein Thema von Behinderung und Nicht-Behinderung. Bei der Inklusion geht es um 'Chancen für alle'. Und deshalb geht es auch um allgemeine Benachteiligung, also zum Beispiel Migration und Armut. Durch Herkunft und Armut sind immer noch viele Menschen benachteiligt.
Wird durch diese Erweiterung des Begriffs die Verwirklichung nicht deutlich erschwert?
Doch, das ist ganz klar der Fall. Aber es ist wichtig. Zum Beispiel, wenn man versucht in einer Gemeinde eine neue Wohnanlage für behinderte Menschen zu bauen. In der Regel ist das ein schönes Haus. Es ist aber so, dass gleichzeitig viele andere in schwierigen Wohnbedingungen leben und dann sagen, warum bekommen die schönen Wohnungen und wir bekommen nichts. Die Verantwortung für alle zu übernehmen, wäre ein ganz wichtiger Punkt, nicht nur zielgruppenspezifisch zu schauen, sondern zielgruppenübergreifend. Aber das ist sicher schwer.
Seit 2009 ist Inklusion als Menschenrecht durch die Vereinten Nationen festgelegt. Auf welchem Stand ist Deutschland heute und wann hat man mit der Inklusion in diesem Land begonnen?
Das hängt vom Bereich ab, auf den man schaut. In Kitas haben sich die Bedingungen wesentlich verbessert. Wir hatten noch in den 1950er Jahren die Situation, dass Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung kein Bildungsrecht hatten, sie besaßen kein Schulrecht. Und daraufhin hat sich dann recht schnell eine Ausweitung von Sonderschulen entwickelt. In den 1970er Jahren haben sich dann einige integrative Bewegungen entwickelt. Heute ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild, weil Bildung Sache der einzelnen Bundesländer ist, was in diesem Fall ein Problem bedeutet. In Schleswig-Holstein, Thüringen und Berlin haben wir wesentlich bessere Bedingungen als anderswo. Dort gibt es 90-99 Prozent Inklusion von behinderten Kindern in Kindergärten , in Bayern sind es nur 40 Prozent. Im Schulbereich sind die Inklusionsquoten noch geringer. Deutschlandweit gibt es eine Inklusionsquote im Schulbereich von nur 29 Prozent.
Und wie schneidet Deutschland im europäischen Vergleich ab?
In Bezug auf Inklusion von Menschen mit Behinderungen ist sicher Skandinavien an der Spitze. Aber auch in Italien und Spanien gibt es recht gute Verhältnisse. Wir haben da in Deutschland noch einigen Nachholbedarf. Diesem Bereich hat man einfach lange sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Was verhindert die Verbreitung von Inklusion?
Durch meine Projekte habe ich oft von Erzieherinnen gehört: "Wir hatten soviel Angst und Sorgen, dass wir das nicht hinbekommen und jetzt ist es eine ganz tolle Situation, dass diese Kinder in unserer Gruppe sind." Es ist ganz oft die Angst vor der Begegnung, die Vorstellung, mir gelingt es nicht, die Kommunikation herzustellen. Das kommt dadurch zustande, dass wir behinderten Menschen im Alltag wenig begegnen. Viele behinderte Menschen sehen weniger ihre Behinderung als Problem, sondern für sie ist das Problem, dass die anderen sie als Behinderte sehen. Das ist die größte Hürde. Deshalb ist es entscheidend, wie man über Behinderung denkt.
Wie wird sich die Inklusion entwickeln? Ist Deutschland auf dem richtigen Weg?
Es gibt viele gute Ansätze und Bewegungen. Ich glaube einfach, dass wir allein aufgrund des demografischen Wandels mehr in den Blick bekommen, dass wir jeden brauchen. Dass wir uns das " die lassen wir beiseite " gar nicht mehr leisten können: Und ich bin mir auch sicher, wenn Eltern merken, dass die Aufteilung nicht selbstverständlich sein muss und ihre Kinder nicht automatisch in eine Sondereinrichtung gehen müssen, dann werden sie auch noch mehr für die Inklusion kämpfen. Da wird es einen Generationswechsel geben. Ich bin hoffnungsvoll, aber vorsichtig. Eine große Änderung werden wir aber wohl erst in 30 Jahren erreicht haben.
Jo Jerg ist Dozent und Enthinderungsbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.