Diyarbakirs Friedensdividende
10. September 2013Ein 45 Grad heißer Sommertag in Çermik, einer kleinen Stadt der Provinz Diyarbakir im Südosten der Türkei. Sie ist umgeben von kargen Bergen und wenigen Bäumen. Doch unter der Oberfläche sprudeln Thermalquellen - für viele inländische Touristen Grund genug, an diesen Ort zu reisen. Bisher war der Fremdenverkehr eher unterentwickelt in der zu den Kurdengebieten gehörenden Stadt. Es gab fast nur sehr einfache Pensionen. Bald jedoch sollen den Touristen in dem etwa 90 Kilometer von der Provinzhauptstadt Diyarbakir - sie trägt denselben Namen wie die Provinz - gelegenen Ort bessere Hotels zur Verfügung stehen. Südlich von Çermik wird ein Hotelkomplex gebaut.
Es ist eines der Projekte in der Provinz Diyarbakir, das nach dem begonnenen Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK seit März dieses Jahres initiiert wurde. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat der Kurdenkonflikt in der Türkei zu blutigen Auseinandersetzungen geführt, die mehr als 40.000 Menschen das Leben kosteten. Um den Bürgerkrieg zu beenden, hat die Regierung von Recep Tayyip Erdogan die Verhandlungen mit dem inhaftierten Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan begonnen. Man vereinbarte den Abzug der etwa 2500 bewaffneten PKK-Kämpfer aus der Türkei nach Nordirak. Im Gegenzug soll Ankara den etwa 15 Millionen Kurden im Land mehr Autonomie gewähren sowie das Recht auf Schulunterricht in kurdischer Sprache.
Zurzeit stockt allerdings der Normalisierungsprozess. Die PKK hat jüngst erklärt, den vereinbarten Rückzug gestoppt zu haben und wirft der Regierung vor, die vereinbarten Reformen nicht umzusetzen. Erdogan beschuldigt seinerseits die Rebellen, ihre Versprechen nicht einzuhalten. Trotz dieser gegenseitigen Vorwürfe betonen allerdings die beiden Seiten, an Waffenstillstand und Friedensprozess festhalten zu wollen.
Auswanderer kehren zurück
Darauf setzt auch Aziz Tosun. Unter der prallen Sonne deckt der Bauarbeiter das Dach des ersten Hauses in der Hotelanlage. Ursprünglich kommt Tosun aus Çermik, 15 Jahre lang arbeitete er aber auswärts, da er in seiner Heimatstadt keine Arbeit finden konnte. Seit zwei Monaten allerdings lebt er wieder in Çermik. Seit dem Friedensprozess gäbe es mehr Arbeit, sagt Tosun lächelnd: "Jahrelang haben wir in anderen Städten gearbeitet. Aber es ist am besten, wenn man auf seinem eigenen Land und in der eigenen Stadt arbeiten kann. Früher waren wir immer vier, fünf Monate weg von zu Hause. Jetzt gehen wir morgens zur Arbeit und abends sind wir wieder bei unserer Familie."
Tosun ist froh, für die nächsten zwei Jahre auf der Baustelle des Hotels arbeiten zu können. Eine Beschäftigung auf dieser Baustelle werden weitere 500 Bauarbeiter finden. Das Hotel-Ressort soll sich über 300 Hektar erstrecken und soll 3000 Appartements sowie ein Hotel mit 200 Zimmern umfassen.
Der Friedensprozess zieht die Investoren an
Der Geschäftsführer dieses gigantischen Projektes der Firma Hamzalar ist Necip Yildiz. Während er stolz auf die Projektskizze hinweist, erklärt er, dass der Friedensprozess viele Geschäftsleute ermutige, in diese Region zu investieren.
Die sehr instabile Sicherheitslage aufgrund des Bürgerkrieges in der Region schreckte bis vor wenigen Monaten viele Unternehmer ab, kaum jemand wollte hier investieren. Das sei sehr nachvollziehbar gewesen sagt Necip: "Wenn einem Arbeiter etwas passieren sollte - wer könnte die Verantwortung dafür übernehmen?" Inzwischen herrscht aber Waffenstillstand in den Kurdengebieten. Die türkische Regierung verhandelt mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan über einen dauerhaften Frieden. Für Necip eine sehr positive und ermutigende Entwicklung: "Egal, wer diesen Friedensprozess unterstützt, er macht etwas sehr Gutes."
Das Interesse an Diyarbakir steigt
Der Friedensprozess hat in der Region viele Befürworter, denn schon die Hoffnung, dass es zu einem nachhaltigen Frieden kommen könnte reiche aus, die Investoren in die Region zu ziehen, meint Ahmet Sayan, der Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer Diyarbakir. Zwar tasteten sich die Investoren vor dem Hintergrund des laufenden Friedensprozesses noch vorsichtig an die Region heran, aber in den letzten Monaten seien bereits mehr als 100 Geschäftsleute nach Diyarbakir gekommen, um sich über die Region und hinsichtlich der Investitionsmöglichkeiten zu erkundigen.
Sayan bemerkt, dass der türkische Staat die Investitionsvorhaben in die Region im besonderen Maße mit Förderprogrammen unterstützt: "Wenn Sie in Diyarbakir eine Produktionsanlage bauen wollen, zahlen sie keine sozialen Abgaben für die Arbeitnehmer. Oder, wenn Sie eine Finanzierung gefunden haben, übernimmt der Staat für Ihr Unternehmen die Zinsen bis zu sieben Prozent. Oder angenommen Sie kaufen Maschinen oder Ausstattung im Ausland - dann müssen Sie keine Zollgebühren zahlen."
Diyarbakirs Wirtschaftskraft
Laut Ahmet Sayan habe die Bevölkerung der Provinz Diyarbakir ein erhebliches Wirtschaftspotenzial. Von den insgesamt 1,6 Millionen Einwohnern seien mindestens 600.000 Jugendliche unter 15 Jahren. Dadurch stehe ein enormes Arbeitskräftepotenzial für die beabsichtigte Industrialisierung zur Verfügung, erklärt Ahmet Sayan.
Und auch die geografische Lage der Provinz bringe Vorteile für die Geschäfte mit benachbarten Staaten mit sich, insbesondere mit dem Irak. So betrug der Export aus der Türkei im letzten Jahr etwa zwölf Millionen Dollar. Der größte Teil entfällt auf die Provinz Diyarbakir - Tendenz steigend, erklärt Sayan. "Auf der einen Seite haben wir immer mehr Firmen, die exportieren, auf der anderen Seite steigt unser Handelsvolumen jedes Jahr. So machte der Export der Provinz Diyarbakir in den Irak mehr als die Hälfte des gesamten Handels der Stadt im 2012 aus. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Lebensmittel."
Laut dem türkischen Statistikamt ist die Arbeitslosenquote im Südosten der Türkei mit 12,4 Prozent die höchste im gesamten Land. Das sieht man auch auf den Straßen - die engen und lauten Gassen von Diyarbakir sind voller junger Menschen. Am Straßenrand verkaufen kleine Kinder Wasser oder Sesamringe, während ältere Männer an jeder Ecke das traditionelle Erfrischungsgetränk Serbet anbieten. Der beginnende Aufschwung ist bei vielen noch nicht angekommen, aber sie hoffen, dass es bald besser wird. Und alle wünschen, dass trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten die wichtigste Voraussetzung dafür erfüllt wird: ein dauerhafter Frieden.