100 Jahre John Cage
3. September 2012Das beste Stück, das John Cage jemals komponiert hat, das Stück jedenfalls, das er selbst am meisten mochte, kann man nicht aufnehmen. Man muss es erleben, im Konzert. Cage nannte es einfach sein "stilles Stück", offiziell heißt es "4'33" - also 4 Minuten 33 Sekunden. So lange dauern die drei Sätze des Werks, in dem eine unbestimmte Anzahl von Musikern auf der Bühne - nichts tut. Bei der Uraufführung hat ein Pianist sich an den Flügel gesetzt, den Deckel über der Tastatur geschlossen und nach 4 Minuten und 33 Sekunden wieder geöffnet. Die Zeitungen berichten später: "Der größte Teil des Publikums kochte vor Wut. Ein Zuhörer stand auf und rief: 'Lasst uns diese Leute aus der Stadt jagen!'"
Kunst oder Zufall?
Das Jahr: 1952. Cage war vierzig und an solche Eklats längst gewöhnt. Doch Menschen zu schockieren und in Rage zu bringen, war nicht seine Absicht. Ihre Ohren zu öffnen, das schon. Genau das will auch das stille Stück. In einem angeblich schalltoten Raum hatte Cage zur eigenen Verwunderung noch das Sirren seines Nervensystems gehört und das Pochen des Blutes.
Er kam zur Einsicht: Stille ist nicht Abwesenheit von Klang, sondern Abwesenheit von Klang, der mit Absicht erzeugt wird. Keineswegs also markiert 4'33" das Nichts. Es verweist vielmehr darauf, dass auch dann, wenn niemand Musik macht, die Welt voller Klänge ist. 4'33" versöhnt die Kunst mit dem Leben - indem es die Grenze dazwischen niederreißt.
Nicht nur Musiker
Am 5. September 1912 wurde John Milton Cage Jr. in Los Angeles geboren. Der Vater ein Erfinder, die Mutter Journalistin. Cage junior absolvierte die Schule mit Bestnoten. Er überlegte, Dichter zu werden, dann Priester oder Architekt. Oder Maler? Er konzentrierte sich zunächst auf Musik - um später in seinen poetischen Schriften, in Zeichnungen und Drucken das Feld wieder zu erweitern.
Bei dem berühmten modernen Komponisten Arnold Schönberg lernte er Komposition, er schrieb innovative Stücke vor allem für Schlagzeugensembles und Musik für den Tanz. Ende der 40er Jahren aber wuchs ihm sein Leben über den Kopf. Er hatte kaum Geld, rauchte, trank, seine Ehe scheiterte.
Weg von musikalischer Zielstrebigkeit
Der Zufall führte ihn aus der Krise. In der Arbeit mit dem chinesischen Orakel-Buch "I Ging" fand er einen Weg, Werke zu schaffen, die frei sind von Neigungen und Abneigungen. Den "Geist beruhigen und ernüchtern" - dieses Motto eines indischen Philosophen leitete seine Arbeit von nun an. Freunde wie die Maler Robert Rauschenberg und Jasper Johns und auch sein neuer Lebenspartner, der Tänzer Merce Cunningham, bestärkten ihn.
Musik ist Natur, Natur ist Musik
Die Werke von John Cage und die Ideen, die sie beflügeln, rissen die Musikgeschichte aus ihrer Spur. "Music of Changes" oder das legendäre "Concert for Piano and Orchestra", die früh auch in Deutschland aufgeführt wurden, später dann medienübergreifende Arbeiten, Performances, Hörspiele, Musiktheater: Sie erweiterten den Kunstbegriff und zogen viele junge Kollegen in den Bann. Die moderne Kunstrichtung Fluxus oder Happenings etwa wären ohne Cage nicht denkbar.
Unermüdlich erfand er bis zu seinem Tod im August 1992 immer neue Verfahren, um Klang jenseits des menschlichen Willens erfahrbar zu machen, um mit Musik, wie er es ausdrückte, "die Wirkungsweise der Natur zu imitieren". Cages Musik hören oder einfach im Alltag die Ohren aufmachen und bewusst wahrnehmen, wie die Welt von sich aus klingt: Das ist kein Unterschied in der Sache, allenfalls in der Qualität.
Wie das geht, hat Cage selbst vorgemacht: Mit Merce Cunningham zog er für die letzten dreizehn Jahre seines Lebens in eine große Dachwohnung direkt an der Sixth Avenue, eine der meist befahrenen Straßen von New York. Er brauche jetzt kein Radio mehr, erklärte Cage seinen Besuchern gerne: "Ich muss nur das Fenster aufmachen."