"JFK" - zur Geschichte eines Mythos
27. Oktober 2017"Ein Durcheinander". So umriss der Politikwissenschaftler und Publizist Larry J. Sabato seinen Eindruck von den nun veröffentlichten Unterlagen über den Mord an John F. Kennedy im November 1963. Stunden hatte er sich über das Material - insgesamt rund 2800 Dokumente - gebeugt, dann gab er in der "New York Times" das Ergebnis seiner zwangsläufig kursorischen Analyse wieder.
Demnach war Mexiko damals ein kooperativer Partner der USA; das Land war vor der Ermordung Kennedys dabei behilflich, die Botschaften anderer Länder abzuhören. Der Rechtsanwalt Mark Lane, der damals die Mutter des Kennedy-Mörders Lee Harvey Oswald vertrat, habe wilde Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt. Aber mehr als eine Reihe eher bedeutungsloser Informationen, so kann man Sabato verstehen, hat die Durchsicht nicht ergeben.
Umso größere Neugier wecken die übrigen, bisher nicht veröffentlichten Akten zu dem Fall. Nachdem Trump die Freigabe der Akten angeordnet hatte, drängten CIA, FBI und andere Sicherheitsdienste darauf, zumindest einen Teil von ihnen weiterhin geheim zu halten. Nach Angaben des Weißen Hauses wollen die Dienste auf diese Weise den Schutz damaliger Informanten gewährleisten. Nun hat Trump den Sicherheitsdiensten eine Frist von sechs Monaten gesetzt, innerhalb derer sie ihr Plädoyer für die Nicht-Veröffentlichung begründen sollen.
Zwischen Nostalgie und Verschwörung
Seit Jahren kursieren um die Ermordung des Präsidenten Verschwörungstheorien, die die von einer Untersuchungskommission vertretene Überzeugung, Lee Harvey Oswald habe allein gehandelt, in Frage stellen. Behauptet wird etwa, hinter dem Mord stehe - zum Beispiel - die CIA, der KGB, Exilkubaner oder die Mafia. Neuen Zündstoff erhielten die Theorien durch den 1991 in den Kinos anlaufenden Film "JFK" des US-Regisseurs Oliver Stone, der einige Motive dieser Theorien aufgriff.
JFK und sein Tod beschäftigen die Menschen bis heute. Dabei steht weniger die historische Person Kennedy im Vordergrund als die Nostalgie, die sich an die Figur des Präsidenten knüpft. Wie kein anderer Politiker außer vielleicht Obama stehe Kennedy für eine idealisierte Vorstellung der USA, sagt der an der Universität Tübingen lehrende Amerikanist und Kulturwissenschaftler Michael Butter. "Wir haben das Bild dieses jungen, strahlenden, weltoffenen Präsidenten mit seinen hübschen Kindern undseiner schönen Frau, dem man so viel zugetraut hat - und der dann so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde." Durch den Tod in jungen Jahren, so Butter, umgebe Kennedy eine "Aura des Unvollendeten".
Projektionen der Gegenwart
Im Mittelpunkt der Verschwörungstheorien steht darum weniger der historische Kennedy als vielmehr eine mit ihm lose verknüpfte mythische Figur, auf die sich politische Projektionen ganz unterschiedlicher Art richten. In einer aufgewühlten, sich in unversöhnlichen Blöcken gegenüberstehenden Gesellschaft wie der amerikanischen fungiert Kennedy als eine Figur, die über viele Grenzen hinweg positive Empfindungen weckt. "Man kann in manchen Bereichen schon hinterfragen, ob es in den USA immer noch so funktioniert, wie es funktionieren sollte", so Butter. "Und das befördert natürlich auch die Sehnsucht nach einer Figur wie Kennedy und nach einer Zeit, wo alles irgendwie besser schien."
Die öffentliche Figur Kennedy ist darum in gewisser Weise auch immer ein Kind ihrer Zeit. Gerade die ungebrochene Popularität dieser Figur, die Verschwörungstheorien, die sich um sie ranken, sagen viel mehr über die gegenwärtige Gesellschaft als über den Präsidenten selber aus. In Kennedy, so kann man Butter verstehen, spiegeln sich wie in einem Brennglas die jüngsten Entwicklungen der USA. Denn auch die Verschwörungstheorien stehen nicht im luftleeren Raum. "Das hat sehr viel mit den Bedingungen des Internets wie auch mit dem Aufkommen populistischer Bewegungen in Nordamerika zu tun, dazu wohl auch mit dem, was man als Fragmentierung der Öffentlichkeit bezeichnen kann", so Michael Butter gegenüber der DW. "Der öffentliche Raum zerfällt, und so entsteht das, was man als Filterblasen und Echokammern bezeichnet."
Verehrung und Verachtung
Und noch etwas zeigt sich an der mythischen Kompensationsfigur John F. Kennedy: Die Verehrung, die er genießt, verläuft jenseits der etablierten ideologischen Linien. In der Wertschätzung Kennedys träfen sich Personen, deren ideologische Positionen sonst keinerlei Berührungspunkte hätten, so Butter. "Es gab kürzlich in den USA einige Umfragen, die deutlich gezeigt haben, dass die Ermordung Kennedys einer der wenigen Fälle ist, wo es die typische Trennung in Liberale und Konservative, in rote und blaue Staaten nicht gibt. Quer durch die verschiedenen demographischen Gruppen gibt es ein relativ großes Misstrauen gegenüber der offiziellen Erklärung."
Der Verehrung Kennedys entspricht am anderen Ende des ideologischen Spektrums die Missachtung und Wut, die vielen Politikern in weiten Teilen der Bevölkerung entgegenschlägt. Die zeigte sich selten deutlicher als im Triumph Donald Trumps bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen. Dieser Triumph hat gezeigt, wie eng Verehrung und Verachtung, Hingabe und Hass beieinander liegen können. Die Erhöhung der Vergangenheit mündet in die Geringschätzung der Gegenwart.