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Literatur

Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe"

Aygül Cizmecioglu
9. Oktober 2018

Für sie ist die Haptik von Büchern fast genauso wichtig wie das Erzählte. In ihrem Roman blickt Judith Schalansky auf das Nachwende-Deutschland. Der brillante Hassmonolog einer Lehrerin in der ostdeutschen Provinz. 

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Judith Schalansky
Bild: picture-alliance/E. Elsner

Sinnlich müssen sie sein, Überraschungen bergen, die sich Seite für Seite langsam entfalten. Der Einband, die Dicke des Papiers, Farbnuancen - für Judith Schalansky sind es genau diese Details, die aus einer schnöden Geschichte zwischen zwei Buchdeckeln ein besonderes Werk machen und im Einklang mit dem Inhalt ein eigenes Universum erschaffen. 

Recht des Stärkeren

Im groben Leineneinband wirkt ihr Roman "Der Hals der Giraffe" schroff, zunächst abweisend – wie ihre Protagonistin. Die Biologielehrerin Inge Lohmark ätzt sich durch ihre letzten Dienstjahre. Ihre Schule im mecklenburgischen Hinterland wird bald abgewickelt – die Wiedervereinigung hat im Osten Leere hinterlassen. Landflucht, zu wenig Schüler. Und die hasst Inge Lohmark sowieso, genauso wie das eigene Leben. 

"Der Hals der Giraffe" von Judith Schalansky

"Es lohnte sich einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke bleiben. Es war empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren."

Inge Lohmark, die einstige Stasi-Informantin, trichtert ihren Schülern das Recht des Stärkeren ein. Und wirkt dabei wie ein Fossil aus der Vergangenheit. Ihre biologischen 'Wahrheiten' greifen nicht mehr, genauso wenig wie die politischen. Judith Schalansky entwirft das Psychogramm einer moralisch fragwürdigen Frau, ohne sie vorzuführen oder zu rechtfertigen. Wie sie dennoch das Menschliche hinter der gesellschaftlichen Tristesse aufblitzen lässt, das macht den Reiz ihres Romans aus. 

Bibliophile Kleinode

Buchcover Atlas der abgelegenen Inseln von Judith Schalansky
Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" aus dem Jahr 2009 wurde von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnetBild: mare Verlag

Die Schriftstellerin ist selbst Tochter von zwei Lehrern und im Osten in der Nähe von Greifswald aufgewachsen. Der Enge der DDR ist sie mithilfe von Büchern entflohen. Heute formt sie ihre bibliophilen Kunstwerke bis ins letzte Detail selbst – von der Recherche bis zum Druck. Und sie ist damit ziemlich erfolgreich. 

Ihre Bücher sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt, bekommen Designpreise und erlangen immer höhere Auflagen. So widmete sie 2009 ihrer Liebe zur Typografie einen 700 Seiten-Wälzer, indem sie ein von Fernweh durchzogenes Kleinod gestaltete – den "Atlas der abgelegenen Inseln". Kompromisse mag sie ebenso wenig wie lieblos verpackte Wortpakete. Genau diese Bedingungslosigkeit, das Ringen um jedes Detail, treibt Judith Schalansky an. Einige mögen das pedantisch nennen, sie selbst nennt es Leidenschaft.

 

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe (2011), Suhrkamp Verlag

Judith Schalansky, geboren 1980, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign, unterrichtete Typografische Grundlagen an der Fachhochschule Potsdam und lebt heute als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Für ihren "Atlas der abgelegenen Inseln" (2009) wurde sie mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Ihr Bildungsroman "Der Hals der Giraffe" wurde 2012 zum "Schönsten deutschen Buch" gekürt.