"Bach berührte Williams Herz"
15. Juni 2015Das einzige nachweislich authentische Porträt des Komponisten Johann Sebastian Bach wurde kürzlich nach Leipzig überführt. Es war ein sensationeller Augenblick bei der Eröffnung der Bachfests Leipzig am 12. April, als dieses Gemälde von Elias Gottlob Haussmann aus dem Jahr 1748 offiziell enthüllt wurde. Nachdem das Bildnis des Komponisten 265 Jahre lang fern der Stadt weilte, wird es nun im Bach Museum in Leipzig ausgestellt. Geschätzter Wert: 2,5 Millionen Euro. Der Eigentümerwechsel erfolgte durch die Intervention des Bach-Archiv-Präsidentens Sir John Eliot Gardiner und Judith Scheides, der Witwe von William H. Scheide. Mehr als 60 Jahre lang hatte das Porträt im Wohnzimmer des US-amerikanischen Musikologen, Historikers und Mäzenen in Princeton, New Jersey, gehangen.
DW: Welches Gefühl haben Sie, das berühmte Bach-Porträt, das so lange bei Ihnen zu Hause hing, jetzt wieder in der Stadt zu sehen, in der Bach einst lebte und wirkte?
Judith Scheide: Ich finde es wunderbar. Das ist es, was Bill vom Anfang an vorhatte: Er wollte, dass das Bild nach Deutschland zurückkehrt. Damals lag Leipzig allerdings in der DDR, und es dorthin zu geben, kam für ihn nicht in Frage. Aber nach der Wiedervereinigung hatte er den Leipzigern in seinem Testament ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Vor 18 Monaten erklärte mir Sir John Eliot Gardiner dann, dass das Lepiziger Bach-Archiv nicht über die Mittel verfüge, das Bild käuflich zu erwerben und dass es wohl bei irgendeinem Oligarchen landen würde, der es sich leisten könnte. Ich habe das Bill erzählt. Er rief sofort seinen Rechtsanwalt an und verfügte, dass das Bild aus der Erbmasse herausgenommen und direkt dem Bach-Archiv überlassen werden sollte. Das wurde dann im April 2014 im Testament festgehalten, da war mein Mann bereits 100 Jahre alt. Und er sagte: "So sollte es sein."
Wir haben gehört, dass Ihre Ehe mit William Scheide eine Art Ménage à Trois war…
So war es auch! In einem gewissen Sinne war Bach der Hausvorstand. Und Bill Scheide zu beherrschen, war alles andere als einfach! Aber das Porträt hing halt da, und er war dem Werk Bachs absolut ergeben. 1946 gründete er zum Beispiel das Bach Aria-Ensemble. Es gab damals keine Extra-Veröffentlichungen der Arien; man kannte sie lediglich im Kontext der Kantaten. Er reiste mit seinem Ensemble überall in den USA, damit die Leute diese Seite von Bach kennenlernen konnten. Einige der schönsten Melodien, die je komponiert wurden, waren Bach-Kompositionen, aber damals wusste man das nicht.
Wie kam er in den Besitz des Gemäldes?
Es wurde zum Verkauf angeboten, weil Walter Junker, der frühere Besitzer, John Eliot Gardiners Eltern gebeten hatte, das Porträt während des Krieges in ihre Obhut zu nehmen. Dann sagte er ihnen irgendwann: "Ich muss das Bild veräußern, um die Ausbildung meiner Söhne zu finanzieren." Bill kaufte es und ließ es 1953 nach Amerika transportieren. Und in all den Jahren danach hing es an derselben Stelle. Er liebte das Bild. Jeden Morgen wandte er sich ihm zu und sagte: "Good morning, sir!" Und dann jeden Abend: "Good night sir!" Er liebte auch Schubert, Mozart, Chopin und Beethoven, aber Bach berührte sein Herz.
Und jetzt diese ganze Aufregung: Zuerst die ganzen Fotografen bei der Enthüllung des Gemäldes in der Nikolaikirche, und nun sieht man das Bild an seinem endgültigen Ausstellungsort im Bach-Museum. Es wird sogar "Mona Lisa von Leipzig" genannt!
Im gewissen Sinne stimmt das: Schließlich zieht die Mona Lisa das Publikum in den Louvre. Ich glaube, das wird beim Bach-Porträt ähnlich sein. Mit dem ganzen öffentlichen Interesse jetzt denke ich, dass Leute hierhin kommen und sagen werden: "Hast du den echten Bach gesehen?" Heute, mit dieser speziellen Beleuchtung, sah ich Sachen darin, die mir vorher zu Hause nie aufgefallen waren. Als das Porträt im Wohnzimmer hing, habe ich nie die zusätzlichen kleinen Knöpfe am Hemd bemerkt - oder die kleinen Falten um die Augen oder dass der Ärmel seines weißen Hemdes aussieht, als sei es aus einem sehr dünnen Stoff, etwa dünner Seide, gemacht. Und diese roten Wangen im Gesicht! Und er sieht ganz frisch rasiert aus. Auf Fotos sieht man einige dieser Details nicht.
Wenn man bedenkt, dass man nur wenige authentische Bach-Dokumente erhalten sind, nur einige wenige persönliche Briefe …
Bill hatte einen davon in seiner Bibliothek! Ich muss dem Bach-Archiv davon erzählen. Es handelt sich um einen Brief, den Bach seinem Vetter schrieb. Dieser hatte zeitweise für einige von Bachs Kindern gesorgt und war ein enger Freund. Der Vetter hatte Bach angeschrieben und nach Kopien eines bestimmten Dokuments gefragt. Bach schrieb zurück: "Es sind keine übrig. Aber wenn du mir einen Dollar (Anmerkung der Redaktion: wohl einen Taler) schickst, werde ich dir nach dem nächsten Druck eine Kopie zukommen lassen." Ich finde es vielsagend, dass dieser Mann, obwohl er Bachs Kinder in seine Obhut genommen hatte, trotzdem einen Dollar für den Nachdruck berappeln sollte.
Bach hatte viele Kinder zu versorgen.
Ja, 20 Kinder! Bills Sammlung enthält übrigens auch Originalmanuskripte von Bach, zum Beispiel seine Kantate Nr. 33. Darin ist Bill aufgefallen, dass die Handschrift eng und zerkratzt aussieht, sobald sich die Worte um Sünde, den Teufel und Unglück drehen. Aber bei den Stellen, wo es um Jesus und Frieden geht, ist die Schrift ganz glatt und fehlerfrei.
Man könnte auf den Gedanken kommen, dass es noch mehr Schätze gibt, die auf ihre Entdeckung warten.
Dessen bin ich absolut sicher.
Das Interview führte Rick Fulker.