"Lost" ist das Jugendwort des Jahres 2020
15. Oktober 2020Mit 48 Prozent der Stimmen setzte sich "Lost" gegen die Finalisten "Cringe" und "Wyld/Wild" durch. Das teilte eine Sprecherin des Pons-Verlags mit. Jugendliche waren im Internet aufgerufen, Vorschläge einzureichen und das Wort in mehreren Abstimmungen auszuwählen.
DW: "No front, cringe, wild, lost" - der Trend zu Anglizismen in der Jugendsprache hält an. Warum benutzen Jugendliche in ihren Alltag gerne englische Wörter?
Dr. Nils Bahlo: Englisch hat sich einfach zu einer Modesprache entwickelt und zu einer sehr mächtigen Sprache, die international gesprochen wird. Die großen Modeerscheinungen, wie zum Beispiel das Kommunizieren über Messenger, oder auch die Musikszene werden von anglophonen Begriffen dominiert.
Das kann man ganz gut vergleichen mit dem Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts. Da war es das Französische, das Griechische oder das Lateinische, was damals in der Jugendsprache vorherrschte.
Wozu brauchen Jugendliche überhaupt eine eigene Sprache, mit der sie untereinander kommunizieren?
Für Jugendliche ist in erster Linie das Kommunizieren auf Augenhöhe wichtig, das heißt Identifikation mit Gleichgesinnten oder mit Freundinnen und Freunden. Das Spielen mit Sprache ist auch eine wichtige Funktion.
Und es ist gleichzeitig ein Elaborationsprozess. Genauso wie ein Kind anfängt zu laufen, müssen junge Menschen lernen, Sprache zu verwenden und sie kompetent zu verwenden. Letztendlich kann man noch sagen, die Sprache dient der Provokation. Jugendliche können mit ihrer Jugendsprache ganz wunderbar provozieren, sie können damit sagen, wer sie sind.
Minecraft-Videos prägen Jugendsprache
Sie sprachen von einem Elaborationsprozess, also wenn neues Wissen und neue Informationen im Gehirn mit eigenen Worten vernetzt werden. Wie kommen Jugendliche überhaupt auf diese Wörter?
Es gibt eine ganze Menge von Geber-Bereichen. Das sind einmal natürlich die Freundinnen und Freunde, die irgendwo etwas aufschnappen. Es sind die Medien, es ist die Musikszene, es sind ältere Jugendliche.
Und häufig entstehen die Wörter auch durch eine Situations-Komik, die sich ganz individuell ausprägen kann und dann, weil es lustig ist oder cool, nachgemacht wird. Und wenn das neue Wort prominent genug vertreten ist, dann macht das so seine Runde.
Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Die sozialen Medien spielen heute eine riesige Rolle. Die großen Influencer sind sicherlich Multiplikatoren. Angefangen von Dagi Bee über die Lochis, für jeden ist irgendetwas dabei. Wenn Sie sich die Computer-Szene angucken, dann haben wir da beispielsweise die Let's Play Videos.
Früher sagte man immer, Jugendsprache beginnt mit 11 oder 12 Jahren. Wenn man sich heute Jugendliche anguckt, die schon mit 9 Minecraft Videos anschauen, dann merkt man, dass die Jugendsprache schon im Alter von 8 oder 9 anfangen kann.
Wenn Jugendliche sich untereinander unterhalten, fällt auch das eine oder andere arabische Wort. Unter den Top Ten war 2020 "Mashallah". Welche Bedeutung hat das für die deutsche Jugendsprache?
Es wird oft befürchtet, dass die deutsche Sprache verkommt, weil wir ausländische Einflüsse haben. Dem ist nicht so. Der Einfluss ist aus wissenschaftlicher Sicht eher gering, er ist im niedrigen Prozentbereich angesiedelt.
Wahlverfahren ist unwissenschaftlich
Kommen wir zu der Wahl des Jugendworts des Jahres 2020. In diesem Jahr wurde das Wort nicht von einer Jury ausgewählt wird, sondern jeder konnte online darüber abstimmen. Was halten Sie davon?
Aus wissenschaftlicher Sicht halte ich sehr wenig von dieser Art der Abstimmung - egal, ob das nun eine Jury entscheidet, oder ob das online abgestimmt wird. Das Problem an der ganzen Sache ist: Man weiß nicht, wer abstimmt. Das können auch meine Eltern sein, die die Altersgrenze von 70 Jahren schon lange geknackt haben.
Die Wahl ist auch deswegen unwissenschaftlich, weil es nicht die eine Jugendsprache gibt. Sie ist regional geprägt, sie ist situativ geprägt und jeder spricht ein bisschen anders. Aber aus populärer Sicht finde ich die Jugendwort-Wahl toll. Das liegt einfach daran, dass wir dadurch zum Nachdenken über Sprache und zum Arbeiten mit unserer Sprache angeregt werden.
Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Phänomen Jugendsprache und haben mehrere Bücher darüber veröffentlicht. Wie hat sich die Jugendsprache verändert, und wie wird sie sich in Zukunft entwickeln?
Ich kann nicht so ganz genau sagen, wo es hingeht, ich kann Ihnen bloß eine allgemeine Tendenz geben. Und die resultiert daraus, dass sich Jugendsprache über die vergangenen 300 Jahre, die wir wissenschaftlich überblicken können, nicht großartig verändert hat.
Die Ausprägung der Sprache hat sich schon geändert, aber inhaltlich bleibt das eigentlich immer das Gleiche: Es geht ums Raufen, Saufen, Musizieren, um die Schule, um Geschlechtsverkehr, um Hobbys und um Liebschaften.
Das Gespräch führte Maria John Sánchez.