"Friedensmacher waren überfordert"
13. Oktober 2018Herr Leonhard, "Der überforderte Frieden" nennt sich Ihr neues Buch zum Ende des Ersten Weltkriegs. Inwiefern war dieser Frieden überfordert?
Jörn Leonhard: Der Erste Weltkrieg war ein Krieg, an dem die Öffentlichkeit - die Journalisten, die Medien - viel stärker beteiligt waren als an früheren Kriegen. Zudem war es ein Krieg, in dem es nicht mehr allein um Europa ging. Zur Debatte stand vielmehr ein globaler Anspruch: Es ging auch um Asien und Afrika, es geht um die Zukunft des Kolonialismus. Und es ging um die Idee, das Konzept des Krieges ein für allemal abzuschaffen. Damit lagen natürlich die Hürden für die Siegermächte enorm hoch. Alle diese Elemente - Öffentlichkeit, Welt statt Europa, die Vorstellung "Nie wieder Krieg" - führen in der Kombination zu einer Überforderung.
Der damalige US-Präsident Wilson brachte zur Pariser Friedenskonferenz zwei zentrale Vorstellungen mit: Selbstbestimmung und Minderheitenschutz. Waren die Motive zu idealistisch?
Man tut sich natürlich leicht, das zu kritisieren, weil wir heute um die Konsequenzen wissen. Aber da muss man aus der damaligen Sicht argumentieren. Auch der Völkerbund hat sich nach 1919 zunächst sehr stark für diese Konzepte eingesetzt, weil der homogene Nationalstaat als Chance galt, die Probleme zu lösen, die 1914 zum Kriegsausbruch geführt hatten. Das ist sehr deutlich in der Art und Weise zu erkennen, in der sich der Völkerbund etwa für den Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland einsetzte. Bei den Verhandlungen hieß es: Wenn die Minderheitenprobleme nicht anders zu lösen sind, dann müssen wir die Bevölkerungen "entmischen".
Ein Konzept, das dennoch scheiterte.
Ja. Der entscheidende Punkt, der sich in Paris 1919 zeigt, gründet auf dem Umstand, dass das Konzept der nationalen Selbstbestimmung nie in Reinform angewandt wurde. Stattdessen begreift Wilson, an wie vielen Stellen er Kompromisse machen muss. Wie schafft man etwa einen stabilen polnischen Staat, der auch wirtschaftlich überlebt? Dieser Staat brauchte einen Zugang zum Meer. Dieser ist dann durch den Korridor hin zur Ostsee umgesetzt worden. Und in diesem Korridor nahm man nicht überall Rücksicht auf nationale Selbstbestimmung. In vielen Streitfragen konkurrierten geografische, historische, wirtschaftliche und strategische Argumente, und häufig war das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung nur ein Argument unter vielen.
Hinzu kommt, dass Wilson den Begriff der "Self-Determination" immer doppelt gedacht hat - also nicht nur als nationale Selbstbestimmung, sondern ausdrücklich auch als demokratische Selbstregierung. Das heißt, es gibt diese Kopplung zwischen dem Ideal des Nationalstaates und einer funktionierenden Demokratie. Das wirft die Frage auf, ob diese Selbstbestimmung auch für koloniale Gesellschaften gelten sollte - was Wilson in dieser Form ablehnte. Unter diesen Einschränkungen hat die Glaubwürdigkeit dieses Prinzips und damit auch der westlichen Demokratien insgesamt enorm gelitten.
Stichwort "Internationalisierung" und "Völkerbund" - hat sich das allgemeine Bewusstsein nach 1918 erweitert oder gar internationalisiert?
Ganz sicher. Das ist eine ganz entscheidende Erfahrung von 1918/19: Es gibt Probleme, die nicht an nationalen Grenzen enden. Eine fundamentale Folge des Ersten Weltkriegs war etwa die Massenflucht. Nach 1918/19 waren in den Gebieten der ehemaligen großen Reiche - des Osmanischen Reichs, des Zarenreichs, der Habsburgermonarchie - Millionen Menschen auf der Flucht. Und es zeigte sich sehr schnell, dass das ein Problem ist, dass die einzelnen Nachfolgestaaten mit der Lösung überfordert waren. Hinzu kommt die Frage, wohin man Kriegsgefangenen führt, die aus Staaten kommen, die es nach dem Krieg nicht mehr gibt, so etwa die Soldaten des Habsburgerreichs. Viele gerieten in russische Kriegsgefangenschaft, kamen dann zurück - und ihren Staat gibt es nicht mehr.
Oder nehmen Sie das ganze Thema der Reparationen und Schulden: Ein globalisierter Schuldenkreislauf, der dazu führt, dass die Franzosen und die Briten auf deutsche Reparationszahlungen angewiesen waren, um ihre eigenen Kriegsschulden an die USA zurückzuzahlen, ein großes Thema der internationalen Finanzwelt. Das Ambivalente an dem Pariser Friedensschluss ist der Umstand, dass er einerseits einen Schub an Internationalisierung bringt, gleichzeitig aber auch zu nationaler Abschließung führt, etwa bei der Immigrationspraxis, wo fast alle Länder die Regeln verschärften. Das ist genau der Widerspruch, der die 1920er Jahre charakterisiert.
Schauen wir auf Gegenwart. Derzeit erleben wir in Europa eine Öffnung nationaler Identitäten, nämlich hin zu einer "europäischen" Identität. Kann diese Identität tragen?
Ich bin da sehr vorsichtig, denn ich glaube, man muss erst einmal die Unterschiede verstehen und in gewisser Weise auch aushalten. Ich habe das 2014 sehr deutlich an der sehr unterschiedlichen Art und Weise erfahren, wie etwa Briten, Franzosen, Belgier, Serben, Polen, Deutsche mit dem Erbe des Ersten Weltkriegs umgehen. Man kann nicht davon sprechen, dass es ein gesamteuropäisches Weltkriegsgedenken gibt. Es gab nach 1918/19 sehr viele Zeitgenossen, die argumentierten, dass die Antwort auf diese Erfahrung des Ersten Weltkriegs ein anderes Europa sein müsse, denken wir an die Paneuropa-Bewegung. Wer sich aber mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, erkennt, dass zur europäischen Integration die Erfahrung schlichter Erschöpfung gehört, nicht nur der Idealismus der Europa-Idee. Auch die deutsch-französische Aussöhnung der 1960er Jahre beruht nicht zuletzt auf dieser Erfahrung der Erschöpfung.
Eine "Erschöpfung der Hoffnung" könnte man vielleicht das nennen, was den Mittel- und Osteuropäern nach 1918 widerfahren ist. Die Tschechoslowakei und Polen etwa: Polen tritt wieder auf die europäische Landkarte, und die Tschechoslowakei wird unabhängig. Ein knappes Vierteljahrhundert später werden beide Staaten wieder abhängig, dieses Mal von der Sowjetunion. Ist es denkbar, dass diese Erfahrung sich bis heute auswirkt?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das sind Staaten, die 1918 erstmals ihre nationale Souveränität erhalten oder, wie im Falle Polens, zurückerhalten. Dann kommt der Zweite Weltkrieg, und diese Länder verlieren ihre gerade neu gewonnene Souveränität erneut. Nach 1989 werden sie dann wieder unabhängig, doch im Rahmen der europäischen Integration und der Unionsmitgliedschaft müssen sie erneut auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität verzichten. Manche polnische Reaktion auf Brüsseler Entscheidungen unterstreicht hundert Jahre nach der nationalen Unabhängigkeit daran, wie enorm wichtig die Erinnerung an 1918 ist. Denn damals wird den neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas - also Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien - ein Minderheitenschutz vorgeschrieben. Dieser Umstand wird in Polen schon 1918 als ein Eingriff in die gerade gewonnene Souveränität wahrgenommen, und bis hinein in die Formulierungen gleicht die heutige Kritik an der EU der damaligen Kritik an den entsprechenden Beschlüssen der Pariser Friedenskonferenz.
Wird die Vielfalt der historischen Erfahrungen in der Erinnerungskultur des Jahres 2018 angemessen gespiegelt?
Mir ist sehr stark aufgefallen, wie unterschiedlich die nationalen Gedenkkulturen und auch der Umgang mit dem Erbe des Ersten Weltkriegs sind. Zum Beispiel Frankreich. Dort hat man sich in den vergangrnrn Jahren sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob man die Leistungen und Opfer der französischen Kolonialsoldaten aus Afrika oder aus Indochina genug gewürdigt habe. In Westeuropa existieren diese riesigen Landschaften aus weißen Kreuzen. Aber es sind eben weiße Kreuze. Wo aber ist der Ort des Gedenkens für die muslimischen Soldaten, die zu Tausenden, etwas aus dem Senegal, an der Westfront gestorben sind? Eine völlig andere Situation findet sich in Belgien, das im Ersten Weltkrieg von deutschen Truppen für vier Jahre besetzt wurde. Dort geht es um Fragen der Kollaboration: Wer hat von den Deutschen profitiert? In Großbritannien wiederum fragt man sich, ob der Erste Weltkrieg für das britische Empire nicht der falsche Krieg war. Die Frage also, ob sich Großbritannien nicht auf sein Empire hätte konzentrieren sollen und ob das Engagement in Kontinentaleuropa nicht ein falscher Weg war? Angesichts der Brexit-Debatte hat sich die Relevanz dieser Debatte noch einmal zugespitzt.
Derzeit ist europaweit eine Vergröberung des politischen Diskurses zu beobachten. Er scheint deutlich weniger auf Verständigung vielleicht angelegt als vor einigen Jahren noch. Was sagt das über den Zustand der Demokratie? Ist sie gefährdet?
Auch da ist der Blick auf die 1920er Jahre aufschlussreich. Würde das Argument stimmen, dass die Weimarer Demokratie allein am Versailler Vertrag gescheitert sei, dann hätte die Weimarer Demokratie das Jahr 1923 nicht überleben dürfen. Und trotzdem finden Sie am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre eben nicht nur den italienischen Faschismus und das Zeitalter der ideologischen Extreme, sondern eben auch den "New Deal" in den Vereinigten Staaten - und damit eine neue Antwort auf die Krise von Demokratie und Kapitalismus. So sind die 20er Jahre zum einen ein Lehrstück für die anhaltenden Belastungen des Krieges und die Gefährdung der Demokratie. Aber sie sind mit Blick etwa auf Großbritannien und die USA auch ein gutes Beispiel dafür, wie groß die Resilienz einer Demokratie unter Druck sein kann. Es gibt keine einfachen Analogien zwischen unserer Gegenwart und der Vergangenheit nach 1918, aber wer sich mit der Geschichte beschäftigt, wird in der Gegenwart mehr erkennen. Und in diesem Sinne hat uns die Geschichte von 1918 für die Gegenwart sehr viel zu sagen.
Jörn Leonhard ist Professor für Neue und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg. Zum Ersten Weltkrieg veröffentlichte er zwei grundlegende Bücher: "Die Büchse der Pandora - Geschichte des Ersten Weltkriegs" (2014) und "Der überforderte Frieden - Versailles und die Welt 1918-1923" (Oktober 2018).
Das Gespräch führte stellte Kersten Knipp.