K-Pop in Deutschland: Die Szene wächst
1. Dezember 2019Ich kämpfe ums Gleichgewicht, als ich meine Hüfte wiege, mit meiner rechten Hand ums Gesicht kreise und gleichzeitig in die Hocke gehe, um das linke Bein in die Luft zu werfen. Dass ich Synchrontanz früher nie trainiert habe, macht die Sache nicht einfacher. Auch nicht, dass ich die älteste Person im Raum bin und der einzige Mann. Die zwölf Teenagerinnen, die neben mir tanzen, lächeln einander zu, da ich offensichtlich nicht hinterherkomme.
Dabei möchte ich doch nur in Erfahrung bringen, worum es bei dem Hype um K-Pop, also Popmusik aus Südkorea, geht. Darum habe ich mich zu einem K-Pop-Tanzkurs in Bonn angemeldet.
Big Business aus Südkorea
Noch vor einigen Tagen glaubte ich, über diesen Trend nichts zu wissen. Ich erinnerte mich nur an den Sänger PSY mit seinem "Gangnam Style" und dem seltsamen Pferdereiter-Tanz, mit dem er 2012 die Sommer-Charts eroberte. 3,5 Milliarden Mal wurde sein Video seitdem auf Youtube angeklickt. Heute weiß ich: Das war kein Einzelfall.
Die südkoreanische Pop-Musik gehört inzwischen zu den größten Export-Hits des Landes und ist ein milliardenschweres Business. Hunderte Gruppen kämpfen erfolgreich um ein internationales Publikum. Im Ranking "Social 50" der US-Wochenzeitung Billboard, das die weltweite Popularität von Künstlern in sozialen Netzwerken misst, werden aktuell acht der ersten zehn Plätze von K-Pop-Bands besetzt. Schon 154 Wochen, drei Jahre also, ist die Band BTS - auch bekannt als die Bangtan Boys - auf dem ersten Platz.
In Deutschland, wo internationale Trends oft etwas langsamer ankommen, baut sich der Markt für K-Pop erst auf. Aber es gibt immer mehr Fans, Tanzkurse und Partys, und immer öfter treten auch hierzulande große Bands auf. Als BTS 2018 ihr erstes Konzert in Berlin angekündigt hatten, waren binnen neun Minuten 30.000 Tickets verkauft.
Die Texte muss man nicht verstehen
Jiwon Kang ist von der Entwicklung begeistert. Sie leitet an diesem Abend den Tanzworkshop, den ich besuche, auf dem Gelände einer alten Bonner Tapetenfabrik. Die 24-Jährige kommt von der südkoreanischen Insel Jejudo. In Seoul hat sie zeitgenössischen Tanz studiert. Vor eineinhalb Jahren ist sie nach Deutschland gekommen, um in Europa ihre Tanzausbildung zu vertiefen. Mit dem Tanzunterricht zu den neuesten koreanischen Hits, den sie mehrmals in der Woche gibt, sichert sie sich ihren Unterhalt.
"So viele Menschen wollen mich als Trainerin haben, weil ich aus Korea komme", freut sie sich. Die Tanzschule "Hop Spot", für die sie arbeitet, bietet seit drei Jahren Kurse an, mittlerweile gibt es etwa 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Nordrhein-Westfalen und in Berlin. "Ich bin stolz darauf, den Menschen die koreanische Musik nahezubringen", sagt Jiwon Kang. Der K-Pop-Tanz ist eine bunte Mischung von unterschiedlichen Stilen, mit Elementen aus Hip-Hop und Jazz.
In Jiwons Unterricht sind außer mir ausschließlich Teenagerinnen zwischen 14 und 18 Jahren. Als die Lehrerin das Lied "Hip" der Band MAMAMOO abspielt, schreien einige Mädchen vor Euphorie (später erfahre ich, dass das Lied nicht mal zwei Wochen alt ist, aber trotzdem schon 20 Millionen Mal auf Youtube gesehen wurde). Mit schnellem Beat und Saxofon-Tönen im Refrain klingt es für mich wie viele andere Pop-Hits, nur: auf Koreanisch.
Es ist wie in der eigenen Jugendzeit, als man die Hits aus den USA auch nicht verstanden und trotzdem mit ausgedachten Worten mitgesungen hat. Die Sprachunterschiede scheinen hier nicht so wichtig zu sein. Auch für Jiwon, die noch dabei ist, Deutsch zu lernen. Wir machen ihr die Bewegungen einfach nach.
Es gibt auch Schattenseiten
Wobei: Einfach ist es eben nicht. Selbst kurze Schrittfolgen müssen wir mehrmals langsam wiederholen, um sie gleichzeitig ausführen zu können. Ich muss dabei an die berüchtigten Ausbildungssysteme der südkoreanischen Musikindustrie denken. Kinder, manchmal zwölf, dreizehn Jahre alt, werden rekrutiert und unter jahrelanger Beobachtung in Tanz-, Gesangs- und Benimm-Unterricht zu fertigen Bands zusammengeschweißt. "Idols" sollen gemacht werden, wie man die K-Pop-Künstler nennt. Vergesst die Backstreet Boys: K-Pop hebt den alten Boyband-Standard auf ein neues Niveau.
Da ist nicht nur der Drill. Aktuell macht die koreanische K-Pop-Szene mit vielen Negativschlagzeilen auf sich aufmerksam. Kürzlich haben sich zwei weibliche Interpretinnen selbst das Leben genommen, mutmaßlich wegen Cyber-Mobbing; zwei männliche sind jüngst zu Haftstrafen verurteilt worden. Sie werden beschuldigt, an einer Gruppenvergewaltigung beteiligt gewesen zu sein. Das sind die Schattenseiten einer Szene, die sonst perfekt aussehen mag, wie die beste Choreografie. Doch diese Meldungen scheinen der Faszination K-Pop wenig Abbruch zu tun.
Rund um die Uhr den "Idols" folgen
Was gefällt den Teilnehmerinnen in Jiwons Tanzstunde denn so sehr am koreanischen Pop? Lea ist 14 Jahre alt und sagt: "Ich mag, wie liebevoll die Gruppenmitglieder miteinander umgehen, sowas gibt's bei amerikanischen Bands nicht." Solin, 17, schätzt "auch die Werte, die sie uns vermitteln wollen, wie BTS, die viel über Selbstliebe singen." Celin, 15, findet einfach "die Sprache und Menschen wunderschön." Die gleichaltrige Galina hat sogar angefangen, koreanisch zu lernen.
Sie nennen die Namen von Bands - so schnell wie man ein Kartenspiel nur mischen kann. Die Mädels folgen ihren "Idols" auf Twitter, Youtube, Instagram und VLive, einer japanischen Webseite. Dort sind die Bands nicht nur mit Musikclips vertreten, sondern auch in Reality Shows, mit Eindrücken von Drehs hinter den Kulissen, sie agieren in Live-Chats mit den Fans. Wie viel Zeit nimmt es in Anspruch, all dem zu folgen? "24 Stunden am Tag!", rufen begeistert gleich drei der Mädchen.
"Als ob man befreundet wäre"
Lisa-Sophie Scheurell kann sie gut verstehen. Die 23-jährige angehende Journalistin aus München ist selbst vor einem Jahr "in das K-Pop-Loch gefallen", nachdem sie die Musik von BTS gehört hat. Zusammen mit einer Freundin hat sie in diesem Jahr den ersten deutschsprachigen Podcast über ihre Lieblingsband "K-Pop Pardon?" gestartet. Ich habe sie noch vor dem Workshop angerufen, weil sie auch Außenstehenden wie mir gut erklären kann, woher die riesige Popularität der koreanischen Bands kommt.
"Dadurch, dass die Stars so viel vor der Kamera stehen, lernt man sie auf eine ganz andere Art und Weise kennen. Obwohl ich das Wort 'Star' in dem Kontext schwierig finde, weil man mit all den Videos das Gefühl bekommt, dass sie ganz normale Menschen sind", erzählt Scheurell. So lerne man die unterschiedlichen Charaktereigenschaften von Bandmitgliedern kennen. "Es kommt einem vor, als wenn man mit denen befreundet wäre."
Ich schaue mir selbst eine Folge der Serie "Run BTS" an. Die sieben Jungs mit perfekten Frisuren und schneeweißem Lächeln verbringen einen Tag im Aquapark: Sie rutschen, springen ins Wasser, laufen durch eine Hindernisbahn. Obwohl sie um Punkte konkurieren, gibt es keine negativen Emotionen, alle sind nett und gut drauf. Das Video dauert 30 Minuten, hat Untertitel in 25 Sprachen und wurde über 11 Millionen Mal angeschaut. Ich habe genug Zeit, um über die Frage nachzudenken: Ist das die Zukunft der Musikindustrie?
K-Pop-Partys in immer mehr Städten
Auf meiner Suche nach Antworten habe ich mich auch an Samghun Lee gewendet. Erst vor einem Jahr hat der 27-jährige Münchner mit südkoreanischen Wurzeln zusammen mit ein paar Freunden seine erste K-Pop-Party geschmissen, die schnell zum Erfolg wurde. Heute veranstalten sie zusammen regelmäßige K-Pop-Nächte in zwölf großen Städten in Deutschland sowie in Zürich, Wien und Prag. Lee ist Geschäftsführer der Firma JIN Entertainment, die die Freunde gegründet haben. Er legt auch selber gerne auf.
"So groß wie in Südostasien oder Südamerika ist die Szene in Europa noch nicht", schätzt Lee. Aber auch in Deutschland sieht er noch weiteres Wachstumspotenzial: "Wir bekommen sehr viele Anfragen von Minderjährigen, die zu den Parties mit einem Mutti-Zettel (Erlaubnis von den Eltern - Anm.d.Red.) kommen wollen. Wir sagen denen leider ab, aber wenn sie mit 18 zurückkommen, dann werden es noch viel mehr Menschen werden."
Auch Jiwons Tanzunterricht ist ein Beispiel, wie die Popularität im Internet die Offline-Aktivitäten inspiriert. Am Ende des Unterrichts, lange nachdem ich Muskelkater bekommen und aufgehört habe, nehmen die Mädels ihre neu erlernte Choreografie mit Smartphones auf. Es ist noch zu früh, aber das Ziel vieler Tanzgruppen ist es, die perfekte Choreografie auch irgendwann mal im Internet zu posten.
Ich selber merke erst am nächsten Tag, wie ansteckend K-Pop sein kann. Als ich mich beim Frühstück ertappe, MAMAMOOs Lied zu summen. Mit ausgedachten Wörtern.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/