Havertz komplettiert das neue Chelsea
6. September 202069 Saisontreffer - nur Meister FC Liverpool und Vize Manchester City haben in der gerade zu Ende gegangenen Saison der Premier League mehr Tore erzielt als der FC Chelsea. Dennoch hat der Klub aus dem Südwesten Londons seine Offensive noch einmal verstärkt: Kai Havertz hat am Freitagabend nach langen Verhandlungen bei den "Blues" unterschrieben. Mit dem Ex-Leipziger Timo Werner und Hakim Ziyech von Ajax Amsterdam hatte sich Chelsea bereits zuvor quasi eine neue Angriffsreihe zugelegt - und dafür rund 90 Millionen Euro investiert. Außerdem wurden für die Defensive der langjährige PSG-Abwehrchef Thiago Silva und das Talent Malang Sarr ablösefrei verpflichtet. Verteidiger Ben Chilwell, der aus Leicester an die Stamford Bridge kam, kostete 50 Millionen Euro. Nun kommt eine weitere erhebliche Summe für Havertz hinzu, der mit seinem Transfer die 100-Millionen-Euro-Marke durchbricht und damit der teuerste deutsche Fußballspieler ist.
"Ich bin sehr glücklich und stolz, hier zu sein. Für mich wird ein Traum wahr, in einem großen Verein wie Chelsea zu spielen", sagte Havertz. Er war am Freitag kurzfristig aus dem Quartier der Nationalmannschaft in Stuttgart abgereist. Beim Nations-League-Spiel am Sonntag in der Schweiz wird er dem DFB-Team fehlen.
Laut Medienberichten erhält Bayer 70 Millionen Euro sofort, die restlichen 30 Millionen Euro sollen in weiteren Raten bei entsprechendem Erfolg Chelseas in den kommenden Jahren fließen.
Havertz als Lampards "Waffe"
"Man holt solche Typen, um mehr Waffen zu haben", erklärte Frank Lampard schon Wochen bevor der langwierige Havertz-Transfer endgültig feststand im Interview mit Sport1. "Wir hatten in einigen Spielen zwar viel Ballbesitz, haben aber nicht genug Chancen kreiert." Während Werner seine Schnelligkeit im Eins-gegen-eins einsetzen soll, ist Havertz eher der Mann für die genialen Momente, für unerwartete Pässe in die Tiefe und ansatzlose und platzierte Kunstschüsse aus der zweiten Reihe. Zudem ist der 1,89 Meter große Ex-Leverkusener sehr kopfballstark.
Deutsche Gegenwart und Vergangenheit
Nachdem der 20-Jährige unterschrieben hat, ist der FC Chelsea endgültig zu einer Art Filiale deutscher Nationalspieler geworden. Havertz trifft in der Kabine der "Blues" mit Werner und Antonio Rüdiger, der bereits seit 2017 für Chelsea spielt, auf zwei Kollegen aus der Nationalmannschaft. Mit Christian Pulisic (bis 2019 in Dortmund) und Andreas Christensen (bis 2017 in Mönchengladbach) stehen zwei weitere ehemalige Bundesliga-Profis im Kader. Dass im Notfall auch Deutsch gesprochen werden kann, ist möglicherweise ein Faktor, der bei der Entscheidung für Chelsea eine Rolle gespielt hat.
Das aktuelle deutsche Trio hat dabei nicht viele Vorgänger aus Deutschland, die ebenfalls im dunkelblauen Trikot des CFC aufgelaufen sind. Neben André Schürrle, der 2013 an die Stamford Bridge wechselte und anderthalb Jahre blieb, spielte auch Verteidiger Robert Huth einige Jahre in Chelsea (2002 bis 2006) und gewann zwei Meistertitel mit den "Blues". Dass auch Marko Marin ab 2015 vier Jahre lang ein Chelsea-Spieler war - er war fast die gesamte Zeit an andere Klubs ausgeliehen - ist dagegen fast vergessen. Am erfolgreichsten war Michael Ballack: Der "Capitano" kam nach der WM 2006 vom FC Bayern nach Chelsea und blieb vier Jahre dort. Er wurde einmal englischer Meister, gewann dreimal den FA Cup und stand mit den "Blues" 2008 im Finale der Champions League.
Chelsea als finanzielle Ausnahme
Havertz ist aber wohl auch deswegen in London gelandet, weil seine Auswahlmöglichkeiten, die vor der Corona-Krise fast unendlich erschienen, nun letztendlich doch recht begrenzt waren. In Leverkusen wollte er nicht bleiben, weil die Qualifikation zur Champions League verpasst wurde. Sein alter Verein war bereit ihn ziehen zu lassen, wollte im Gegenzug aber eine Ablösesumme von rund 100 Millionen Euro erzielen. Außer Chelsea wäre kaum ein anderer Verein in der Lage gewesen, diesen Betrag zu stemmen. Sogar für Real Madrid, Gerüchten zufolge Havertz' eigentliches Wunschziel, war der Havertz-Transfer aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie offenbar zu groß.
Chelsea ist dagegen eine Art finanzielle Ausnahme. Zum einen, weil der Klub bis vergangenen Januar von der UEFA mit einer Transfersperre belegt war, konnte einiges an Geld gespart werden, zum anderen erhöhte sich der verfügbare Betrag sogar noch, weil Starspieler Eden Hazard im vergangenen Sommer für 115 Millionen Euro an Madrid verkauft wurde. Außerdem gibt es mit Roman Abramowitsch einen großzügigen Klubeigner, der seinem Klub gerne außergewöhnliche Fußballer spendiert.
Wichtiger Baustein in neuer Ära
Interessant wird nun sein, wie und wo Coach Lampard Havertz in sein System einbaut. Spielt er zentral hinter den Spitzen auf der "10", ist Mason Mount der Mann, mit dem Havertz um den Platz in der Startelf kämpfen muss. Kommt tatsächlich auch noch Coutinho nach Chelsea, wird der Konkurrenzkampf noch enger. Die hohe Ablösesumme und die höhere Qualität und die bessere Torquote sollten im Duell mit Mount für Havertz sprechen. Dass der junge Deutsche - wie zuletzt im verlorenen DFB-Pokal-Finale - auch als Mittelstürmer eingesetzt wird, ist dagegen eher unwahrscheinlich. Die Gangart in der Premier League ist noch eine Spur robuster als in der Bundesliga, und ohnehin hat Havertz seine besten Leistungen dann gezeigt, wenn er nicht in vorderster Linie auf die Bälle warten musste, sondern aus der Tiefe kommen konnte und noch einen guten Teil des Spielfelds vor sich hatte.
Havertz soll ein wichtiger Baustein sein, wenn Chelsea mit einem jungen Team in den kommenden Jahren "eine neue Ära begründet", wie Timo Werner es sich erhofft. Die Ambitionen sind dabei groß, schließlich war der CFC in den vergangenen zehn Jahren dreimal Meister, gewann dreimal den FA Cup und 2019 im Endspiel gegen den Stadtrivalen FC Arsenal die Europa League. "Ein Klub wie Chelsea will immer Titel gewinnen", sagt Frank Lampard pauschal. Allerdings wird es schwer, auch in der Premier League ganz oben zu landen. In den vergangenen drei Spielzeiten sind Liverpool und Manchester City der Konkurrenz enteilt. Chelsea, zuletzt 2017 englischer Meister, war in dieser Zeit in der Abschlusstabelle stets mindestens 26 Punkte schlechter als der Champion.
Ein stiller Star
Für Kai Havertz wird es zunächst darum gehen, sich in Europas vermeintlich bester Liga durchzusetzen. Das Talent und die Klasse dazu hat er. Wie schnell er sich an das neue Umfeld und die neue Liga gewöhnt, muss sich zeigen. Zudem wird entscheidend sein, dass Lampard, der Rest des Teams und die Fans der "Blues" Havertz nicht mit Erwartungen überfrachten. Der 21-Jährige, dem bereits bescheinigt wird, die Qualitäten Zidanes zu haben oder eine Mischung aus Michael Ballack und Mesut Özil zu sein, ist weder der neue Zidane noch der neue Ballack - doch das liegt nicht an seinen fußballerischen Qualitäten.
Havertz ist ein herausragender Fußballer, aber kein Anführer, der auf dem Platz laut wird. Keiner, der wie Ballack auch mal einen Gegner umgrätscht, um das eigene Team wachzurütteln, und schon gar keiner, der wie Zidane seinem Gegner den Schädel in den Bauch rammt, wenn er beleidigt wird. Havertz überzeugt sportlich, schießt wichtige Tore, übernimmt auch bei Elfmetern Verantwortung, aber er macht es auf eine stille Art. Wenn man ihm den Raum gibt, auch beim FC Chelsea ein stiller Star zu sein, werden am Ende beide Seiten davon profitieren.