Corona in Indiens größtem Slum
6. Mai 2020Je wärmer die Tage werden, desto schwerer fällt es Dr. Nazish Shaikh (3. v. l.), ihren Schutzanzug anzuziehen. Die Luftfeuchtigkeit beträgt über 70 Prozent, der hellblaue Overall klebt an der Haut, der Schweiß rinnt. Kurz bevor die Regenzeit beginnt, heizt es sich in vielen Teilen Indiens, so auch an der Westküste in Mumbai auf. Die 33-jährige Ärztin und städtische Hygieneinspektorin gehört zu einem der kleinen Teams, die in Gruppen die engen Gassen des Slums Dharavi durchkämmen, seitdem dort Ende März der erste Corona-Fall bekannt wurde.
Um sich nicht im Straßengewirr zu verirren, hat das Team der "Mission Dharavi" bei den Streifzügen Einheimische und Übersetzer an seiner Seite: In manchen Vierteln sprechen die Bewohner nur ihre Muttersprache und keine der in Mumbai üblichen wie Marathi, Hindi oder Englisch.
Detektivarbeit
Das Team besucht auffällig Erkrankte und Angehörige von Verstorbenen und versucht, Risikokontakte zu identifizieren. Dafür brauchen die Experten Geduld und Taktgefühl. Manche Bewohner befürchteten das Stigma der Krankheit und schweigen. Shaikh und ihre zumeist weiblichen Kollegen haben 74 Kontaktpersonen des ersten Corona-Patienten ausfindig gemacht. "Wir müssen zusammenarbeiten, um gegen das Coronavirus zu gewinnen, Inshallah."
In sogenannten temporären "Fieberkliniken" wird Bewohnern mit dem Stirnthermometer die Temperatur gemessen, nach Symptomen gefragt und bei Verdacht ein Abstrich genommen. Auf diese Weise wurden bislang laut Stadtverwaltung Mumbai rund 83.500 Bewohner von Dharavi untersucht. Die Zahl der Infektionen beläuft sich aktuell auf über 665, davon sind 20 gestorben. Für positiv Getestete, Angehörige und andere Kontaktpersonen bedeutet das für mindestens zwei Wochen Quarantäne in einer Sportanlage oder Schule, die unlängst für diese Zwecke umfunktioniert wurden. 2380 Bewohner in Dbharavi wurden bislang in solche Quarantänestationen geschickt.
Kein Geld wegen Shutdown
Für die übrigen gilt weiterhin eine Ausgangssperre bis zum 18. Mai, außer um Lebensmittel oder Medikamente einzukaufen. Das heißt, wenn sie überhaupt Geld haben, um einzukaufen. Mit dem Virus kam auch die Angst vor dem Hunger in einen der größten Slums Asiens, denn viele Einwohner haben in den vergangenen Wochen ihren Job verloren.
Der leitende Gesundheitsbeamte Kiran Dighavkar schätzt, dass zu den 650.000 registrierten Einwohnern etwa 200.000 Wanderarbeiter hinzukommen. Sie alle verteilen sich auf 2,2 Quadratkilometern, eine Fläche von der Größe des Berliner Tiergartens. Viele von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt nicht nur im zentral gelegenen Dharavi, sondern in der ganzen Stadt.
Die Klein- und Kleinstunternehmen im Slum, wo normalerweise ohne Unterlass nicht nur gefärbt und genäht, sondern auch auf alle denkbaren Arten recycelt wird, sind Teil des Motors der Stadt, die vor 40 Tagen in Zwangspause geschickt wurde. Durch die informelle Wirtschaft kam alleine Dharavi in den vergangenen Jahren schätzungsweise auf einen Umsatz von bis zu einer Milliarde US-Dollar. Doch gegenwärtig liegen die meisten Wirtschaftszweige in Indien flach, da sich das Land seit Ende März im Lockdown befindet. Nur wenige Branchen wie die Lebensmittel- und Pharmaindustrie dürfen mit reduziertem Personal weiterarbeiten. Besonders für Mumbai, wo die Fälle am höchsten sind, gelten strenge Regeln, die erst seit wenigen Tagen gelockert werden.
Essenspakete
Zu Dighavkars Verantwortungsbereich gehört neben der Absperrung von Wohnblöcken mit Coronafällen auch die Versorgung der Anwohner mit Lebensmitteln und Medikamenten sowie die Verteilung von Essenspaketen. Doch die reichen bei weitem nicht aus. Wie überall im Land bekommen Tausende zusätzliche Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern. Manche arbeiten mit Restaurants zusammen und verteilen gekochte Mahlzeiten. Das sei aber aktuell wegen der gestiegenen Fallzahlen in Dharavi nicht mehr möglich, wie einer der Helfer der DW erzählte.
Zwar wurden die staatlichen Lebensmittelrationen für viele Millionen Inder erhöht, doch nicht alle besitzen eine Lebensmittelkarte, um sie einzulösen. So wie der Autorikscha-Fahrer Hemraj in Dharavi. Von einer Nachbarschaftsinitiative hat er Reis, Linsen, Tee und Zucker erhalten. Normalerweise verdient Hemraj umgerechnet knapp 250 Euro im Monat, ist aber seit Wochen arbeitslos. Jedes Jahr kommen Tausende junge Männern wie er aus von Armut geprägten Bundesstaaten aus Nordindien nach Mumbai auf der Suche nach Jobs.
Angst vor dem unsichtbaren Feind
Der Junggeselle lebt mit zwei anderen in einem drei mal drei Meter großen Zimmer. Er hat Angst vor dem "unsichtbaren Feind", der wartet, sobald man das Haus verlässt. "Ich hätte nicht gedacht, in eine so hilflose Situation zu geraten", sagt der 29-Jährige enttäuscht während des Telefonats. Er wolle so schnell wie möglich abreisen und zu seiner Familie, aber ihm fehlt die Fahrkarte für einen der Sonderzüge. Andere Transportmittel fahren derzeit kaum.
Seit einer Woche wird das Team von Nazish Shaikh und Bezirkskommissar Kiran Dighavkar von ansässigen Ärzten aus Dharavi unterstützt, die sich bereit erklärt haben, ihre 350 Praxen wieder zu öffnen, nachdem die Stadtverwaltung ihnen Schutzkleidung zur Verfügung gestellt hat. Viele gegen davon aus, dass sich die Lage in Dharavi wie auch in den vielen anderen Slums nicht so schnell normalisieren wird, sondern dass im Gegenteil die Fallzahlen steigen werden.