Zwischen Öl und Eis
24. Januar 2014Die Dunkelheit der langen, arktischen Nacht weicht nur langsam dem Morgen an diesem Wintertag in Tromsö. An einer verschneiten, mit Eis bedeckten Bushaltestelle sammelt sich eine Gruppe Menschen aus aller Welt, die zum nördlichsten Universitätscampus Norwegens wollen. Dort soll bei der Konferenz Arctic Frontiers (Arktische Grenzen) darüber diskutiert werden, wie der Klimawandel die Potenziale des eisigen Nordens offenlegen könnte.
Vor dem Konferenzsaal drängeln sich Fernsehteams, um die besten Bilder von der Ankunft Erna Solbergs, Norwegens Premierministerin, zu bekommen. Am Eingang stehen junge Demonstranten, die ein Banner mit der Aufschrift "Arktische Zukunft ohne Öl und Gas" hochhalten.
Ingrid Skjoldvear von den "Jungen Freunden der Erde Norwegen" sagt, sie verlangen, dass die Premierministerin die Bohrungen in der Arktis stoppt. Stattdessen sollte sie sich lieber darauf konzentrieren, Emissionen zu senken und Klimaziele zu erreichen, so Skjoldvaer. Aber Norwegens Wohlstand beruht auf Öl - und es sieht nicht so aus, als würde sich das in naher Zukunft ändern.
Keine Zukunft ohne Öl?
Premierministerin Solberg macht kein Geheimnis daraus, wie wichtig Öl- und Gasbohrungen auch in Zukunft für Norwegen sein sollen. Ihr Ziel ist es, Nordnorwegen zu einer "innovativen und stabilen Region" und einem "attraktiven Ort zum Wohnen" zu machen.
Solberg spricht auf der Konferenz mit anderen Politikern aus arktisnahen Ländern über große Möglichkeiten und nachhaltige Entwicklung. Der Abbau von fossilen Brennstoffen ist ein entscheidender Teil ihres Plans, Arbeit, Bildung und eine bessere Infrastruktur in den Norden Norwegens zu bringen. Diese innenpolitische Priorität liege auf einer Linie mit den wachsenden internationalen Interessen in der Arktis, so die konservative Politikerin.
Der Klimawandel hat dramatische Auswirkungen auf die Eisfläche rund um den Nordpol. Aber obwohl Solberg und ihren Kollegen die Probleme bewusst sind, können die jungen Demonstranten keine Änderung in der Ölpolitik erwarten. Nach Schätzungen liegen rund 13 Prozent der verbleibenden Ölvorräte in der Arktis und angeblich ist es leicht, an seltene Mineralien heranzukommen - jetzt wo das Eis schmilzt.
Nina Jensen ist die Direktorin des World Wildlife Funds (WWF) Norwegen, eine der wenigen NGOs, die an der Konferenz teilnehmen. Sie sagt, dass mehr und mehr Norwegern bewusst wird, wie paradox es ist, nach Öl zu bohren, wenn das Eis "uns unter den Füßen wegschmilzt".
Die Völker der Arktis
"Menschen in der Arktis" ist das Thema der diesjährigen Konferenz, zu der nach Schätzungen der Organisatoren innerhalb einer Woche circa 1000 Menschen kommen. In der eisigen Region leben rund vier Millionen Menschen. Viele von ihnen gehören einem von etwa 30 indigenen Völkern an.
Grönlands Premierministerin Aleqa Hammond, selbst eine indigene Grönländerin, schildert die Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Volk: "Stellen Sie sich eine riesige Insel mit drei Klimazonen vor, die sich jedes Jahr um fast zwei Kilometer (1,2 Meilen) nach Norden verschieben", sagt Hammond.
Das verdeutlicht die riesigen Veränderungen, denen Umwelt und Menschen auf Grönland ausgesetzt sind. Die größte Insel der Welt hat eine Eisschicht, die das größte Süßwasser-Reservoir in der nördlichen Hemisphäre bildet. Grönland ist also von größter Wichtigkeit für das globale Klima und die Meeresspiegel.
Hammond macht sich keine Illusionen. Sie weiß, dass ihr kleines Land Einkommen braucht, um die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark zu erreichen. Sie sieht aber auch, welch negativen Einfluss die rasante Industrialisierung auf ein Volk hat, das der Natur traditionell sehr nahe steht.
Die abnehmende Stabilität des Eises ist nicht das einzige Problem: Hammond spricht außerdem von Schadstoffen, die die Umwelt verschmutzen und sich in arktischen Säugetieren ablagern, die traditionell eine wichtige Nahrungsquelle für die Menschen sind.
Bessere Häuser, Ernährung und Gesundheitsvorsorge hätten über die letzten 50 Jahre zwar für eine bessere körperliche Gesundheit gesorgt, so die Politikerin. Aber der Verlust von traditionellen Werten habe zu einer Verschlechterung der Psyche geführt.
Selbstmorde und chronische Krankheiten
Gesundheit ist der Hauptpunkt auf der Tagesordnung der Konferenz. In polarnahen Gegenden ist die Selbstmordrate überdurchschnittlich hoch. Die Häufigkeit von chronischen Krankheiten und Herzerkrankungen steigt, weil sich das Leben der Grönländer verändert: weg vom Jagen und Fischen, hin zu einem "Büro-Lebensstil", wie Hammond es nennt.
Die Landflucht ist ein weiterer problematischer Faktor, da 80 Prozent der 15.000 Grönländer in der Hauptstadt Nuuk leben und nur 20 Prozent in den Dörfern. Vor 100 Jahren lebten noch alle in kleinen Siedlungen.
Andere arktische Regionen sehen sich ähnlichen Problemen gegenüber. Politiker aus Skandinavien, Russland, den USA und Kanada haben den Bedarf an Umweltschutz und sicherer Schifffahrt erkannt und darüber gesprochen, wie man sich auf Ölkatastrophen vorbereitet. Außerdem sind bessere Rettungsprogramme gefragt, da Industrialisierung und neue Schiffswege Frachter und Touristen in die gefährlichen Gewässer der Arktis locken.
Laut Hammond ist das Dilemma folgendes: Wie bringt man Wohlstand durch besseren Zugriff auf Öl und Gas zu den indigenen Arktisvölkern, ohne ihre Gesellschaft zu zerstören? Diese ist in Gefahr, weil das traditionelle, ländliche Leben gerade in die industrialisierte, kommerzielle und globale Welt des 21. Jahrhunderts katapultiert wird, in der die Umwelt nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Immer mehr Interessenten an der Arktis
Im Zentrum von Tromsö treffen sich Vertreter der Mitgliedstaaten des Arktischen Rats und die wachsende Zahl von "Beobachtern" hinter verschlossenen Türen. Immer mehr Länder sind an der Arktis interessiert. Islands Außenminister Gunnar Bragi Sveinsson sagte der DW, dass sein Land gern mit anderen Staaten zusammenarbeite, die in die Region investieren wollen - solange sie sich an Gesetze und Regulierungen halten. Island unterzeichnete vergangenes Jahr ein Freihandelsabkommen mit China.
Aber Grönlands Premierministerin Hammond ruft zur Vorsicht auf. "Für mich ist es klar, dass die Entwicklungen in der Arktis vor allem von den Bedürfnissen der arktischen Völker bestimmt sein müssen - alles andere wäre falsch", sagte sie auf der Konferenz. Gleichzeitig bat sie neue Partner, daran zu denken, dass schon geringe Veränderungen große Wirkung auf die kleine indigene Bevölkerung haben.
Dieser Aufruf lässt das Wissen erahnen, dass das Erschließen der Arktis nicht ohne Wirtschaftskraft und Hilfe von außen möglich sein wird. Und anscheinend will jeder ein Stück vom Arktiskuchen, jetzt wo das Eis schmilzt.