Kanada vor dem Machtwechsel?
19. Oktober 2015Nach 78 Tagen Wahlkampf stehen die Kanadier nun vor der Wahl: Wollen sie den konservativen Premier Stephen Harper nach zehn Jahren abwählen und den jungen liberalen Justin Trudeau zum Regierungschef machen? Glaubt man den letzten Umfragen vor der Öffnung der Wahllokale am heutigen Montag, dann wird Harper seine Mehrheit im Parlament verlieren. Seit 2006 steht er als Premierminister an der Spitze der kanadischen Regierung und hat das traditionell liberale Land nach rechts geführt hat. Die Liberalen, große Verlierer der Wahlen 2011, könnten stark zulegen und ihren Kandidaten Justin Trudeau zumindest an die Spitze einer Minderheitsregierung bringen.
Entfremdung der Wähler
Viele der rund 26 Millionen kanadischen Wähler sind unzufrieden mit Harper und seinem Politikstil. Immer mehr Macht habe er an sich gerissen, das Parlament missachtet und Korruptionsskandale vertuscht, so die Kritik. Zudem habe Harper die Kontrolle der Geheimdienste geschwächt, Bürgerrechte für den Anti-Terror-Kampf eingeschränkt und Wissenschaftlern im öffentlichen Dienst den Mund verboten. Zuletzt sorgten seine Äußerungen zum Verbot der Verschleierung muslimischer Frauen bei der Einbürgerungszeremonie für Streit.
Bei den Parlamentswahlen 2011 hatten die Konservativen 38 Prozent der Stimmen erhalten. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts reichte das jedoch für die absolute Mehrheit im Unterhaus. Letzte Umfragen vom Sonntag sehen die Konservativen nun jedoch sieben Prozentpunkte hinter den Liberalen. Gemeinsam mit der NDP, der sozialdemokratisch ausgerichteten Neuen Demokratischen Partei, könnten sie die Regierungsgeschäfte übernehmen.
Kein Tango allein
Eine Minderheitsregierung unter Harpers Führung erscheint dagegen wenig wahrscheinlich, sagt Max Cameron, Direktor des Zentrums für die Erforschung demokratischer Institutionen an der Universität von British Columbia. "Herr Harper hat in den letzten vier Jahren streng nach Parteilinie regiert und deshalb keinen Partner für einen Tango zu zweit." Die Liberalen und die NDP dagegen, so Cameron, könnten ausreichend Gemeinsamkeiten für Gesetzesvorhaben finden. Dazu könnte eine Wahlrechtsreform gehören, eine bezahlbare Kinderbetreuung und Gesetze zum Klimaschutz. "Der Austritt aus Klimaschutzabkommen hat uns international viel Kritik eingebracht, jedes einzelne Mitglied der Liberalen, der NDP und auch der Grünen Fraktion will, dass hier etwas getan wird." Weiteres Thema: die Flüchtlingspolitik. Viele Kanadier sind beschämt, dass ihr Land etwa aus Syrien nur sehr wenige Flüchtlinge aufnehmen will.
Justin Trudeau, junger, charismatischer Kopf der Liberalen, hat sich im Wahlkampf vor allem in der Wirtschaftspolitik weit aus dem Fenster gelehnt und seine Partei noch links der NDP positioniert. Er kündigte an, drei Jahre lang Schulden zu machen, um in Infrastruktur zu investieren. Zudem will er die Steuern für sehr wohlhabende Kanadier erhöhen. Er hofft, das Erbe seines verstorbenen Vaters Pierre antreten zu können, der als einer der beliebtesten kanadischen Premiers gilt.
Ein Anfänger mit Charisma
Der telegene 43-Jährige musste sich im Wahlkampf gegen den Vorwurf wehren, ein politischer Anfänger zu sein. Mit energiegeladenen Auftritten hat er seiner Partei neues Selbstbewusstsein gegeben und dürfte wohl auch einige Stimmen aus dem rechten Lager einheimsen. Zuletzt sorgte jedoch sein enger Wahlkampfmitarbeiter Dan Gagnier für Negativschlagzeilen, der sich bei der Lobbyberatung eines Energiekonzerns erwischen ließ und zurücktreten musste. Das könnte Trudeaus Angriff auf die Hinterzimmer-Politik Harpers schwächen.
Dass dies Trudeaus Wahlkampfzug noch auf den letzten Metern zum Entgleisen bringt, gilt jedoch als unwahrscheinlich. Erstaunt sind viele Beobachter, dass die NDP im Wahlkampf weniger Wirbel machen konnte als die Liberalen. Eine Zusammenarbeit von Liberalen und NDP könnte, so meint Politikwissenschaftler Cameron, wieder etwas Kompromissbereitschaft und Harmonie in die kanadische Politik bringen. Die letzten Jahre unter Harper seien dagegen von Konfrontation und ständigem Wahlkampf geprägt gewesen.