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Ein neues Buch untersucht den Mord an Litauens Juden 1941

14. Juni 2011

Ein ehemaliger Mitbürger als NS-Verbrecher. Seine Heimatstadt will davon nichts wissen. Der Mann ist ja längst tot. 66 Jahre danach soll die Vergangenheit Vergangenheit bleiben. Doch ein Historiker ist anderer Ansicht.

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Personalausweis von Karl Jäger, ausgestellt von der Stadtverwaltung Heidelberg 1953; Copyright: Hessisches Staatsarchiv Wiesbaden
Jägers Personalausweis, ausgestellt 1953 von der Stadtverwaltung HeidelbergBild: Hessisches Staatsarchiv Wiesbaden

Wenn Wolfram Wette aus dem großen Panoramafenster seines Wohnzimmers schaut, blickt er über Bäume und Büsche hinunter ins Tal nach Waldkirch. Die kleine Stadt im Südwesten Deutschlands, ungefähr zwanzig Minuten von Freiburg entfernt, liegt ihm quasi zu Füßen. Äußerlich. Der Historiker lebt schon vier Jahrzehnte hier, doch viele, so sagt er, betrachteten ihn immer noch als einen Zugereisten. Vor allem aber gilt der Professor als Unruhestifter, als einer, der seit Jahren versucht, den Waldkirchern eine unbequeme Wahrheit nahe zu bringen, ihnen die Augen zu öffnen über einen Mann, der ebenfalls aus dem idyllischen Schwarzwaldstädtchen stammt und von dem die Bewohner heute nichts mehr wissen wollen: Karl Jäger, geboren 1888, Sohn eines Musikschullehrers aus Waldkirch.

Eine exemplarische Biografie

Der Historiker Professor Wolfram Wette, Autor zahlreicher Bücher, schrieb jetzt ein Buch über den NS-Verbrecher Karl Jäer. Copyright: Badische Zeitung/Wolfram Wette
Autor Wolfram WetteBild: Badische Zeitung/Wolfram Wette

Jäger spielte Klavier und Geige, später baute er mechanische Musikinstrumente, heiratete in die örtliche Orgelfabrik ein, nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde schon 1923 Mitglied der NSDAP. Der Historiker Wolfram Wette hat ein Buch geschrieben über diesen Karl Jäger, den Feingeist und Musiker, der zum Massenmörder an den litauischen Juden wurde: "Er war ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft, eine angesehene Persönlichkeit in Waldkirch, galt als vorbildlich, brillant, korrekt und kultiviert. Manche Frauen schwärmen noch heute von ihm, so ansehnlich war er. Sonntags ist er stolz mit seinem hundertköpfigen SS-Sturm durch die Stadt marschiert", erläutert Wette im Gespräch.

Akribische Mordbilanz

Kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kam Jäger im Rücken der Wehrmacht nach Litauen: als Kommandeur eines Einsatzkommandos und mit dem klaren Auftrag, die jüdische Bevölkerung zu vernichten. Wolfram Wette: "Schon ein halbes Jahr später waren die meisten jüdischen Bewohner Litauens ermordet." Und das hieß: Auf offener Straße oder im Wald erschlagen, im Fort bei Kaunas erschossen, im Ghetto verhungert. "Jäger hat dabei akribisch Buch darüber geführt, an welchem Tag wie viele jüdische Frauen, Kinder, Männer ermordet worden sind", sagt der Historiker und Buchautor Wette. Ende November, nachdem 133.346 unschuldige Menschen getötet worden waren, meldete Jäger stolz: "Ganz Litauen ist nunmehr judenfrei." Mitgeholfen hatten bei diesem Verbrechen einheimische Kollaborateure, Handlanger, die mit äußerster Brutalität gegen die Juden vorgingen - ein erschreckendes und bislang weitgehend tabuisiertes Kapitel in der Geschichte Litauens.

Die Hölle auf Erden

Buchcover Wolfram Wette: Karl Jäger (Fischer Taschenbuch Verlag)

Wolfram Wette lässt in seinem Buch freilich nicht nur die Bürokraten des Massenmords sprechen, sondern vor allem auch die wenigen Augenzeugen und Überlebenden, zu denen er seit Jahren persönlichen Kontakt hält. Der damals erst 13-jährige Kuki Kopelman hat das Morden aus allernächster Nähe gesehen und wie durch ein Wunder überlebt: "Deutsche und Litauer mit aufgekrempelten Ärmeln und roten Gesichtern luden und schossen in die Menge. Aus ihren Gewehrläufen blitzte es gelb. Ein Schleier aus blauem Rauch trieb über dem Feld. Es war eine Höllenszene. Heisere Rufe, schrilles Frauengeschrei, brüllende Kinder und Babys, Hundegebell. Wir hatten die Grube erreicht. Da lagen Tausende von Körpern, einer auf dem andern, die wanden sich und schrien und flehten die Deutschen an, es endlich zu Ende zu bringen. Es war die Hölle."

Nach dem Krieg – die große Verdrängung

Der einstige SS-Standartenführer Jäger kam 1945 kurz in seine Heimatstadt zurück - niemand behelligte ihn dort mit unbequemen Fragen. Um jedoch ganz sicher zu gehen, zog Jäger in die Nähe von Heidelberg, verschwieg seine Mitgliedschaft in den NS-Organisationen und lebte dort 15 Jahre lang unter seinem richtigen Namen als unbeschriebenes Blatt und unbescholtener Mann. "Das wirft natürlich Fragen auf nach dem damaligen Zustand der deutschen Gesellschaft", sagt Wette. Erst Ende der 50er Jahre tauchte Jägers Name im Rahmen von Ermittlungen und in Akten auf, er wurde festgenommen und wochenlang verhört. Doch zum eigentlich geplanten großen NS-Prozess kam es nicht mehr. Jäger beging in seiner Zelle Selbstmord.

Das letzte Kapitel - Abwehr und Schweigen

Marktplatz von Waldkirch (Foto: dpa)
Der Marktplatz im beschaulichen WaldkirchBild: picture-alliance/dpa/dpaweb

In Waldkirch verhielt man sich nach Kriegsende nicht anders als sonst auch in der jungen Bundesrepublik: Von der Vergangenheit wollte man nichts mehr wissen. Wolfram Wette: "Dass es Jäger überhaupt gegeben hat, wurde nach 1945 hier im Städtchen verdrängt und beschwiegen."

Gut vier Jahrzehnte später ist sich der Historiker sicher: "Ein ganz großer NS-Täter stammt hier aus dem Ort." Doch Angst und Abwehr waren groß. Niemand mochte an den Massenmörder erinnert werden, nicht die Nachkommen Jägers, nicht die Lokalpolitiker, nicht die Bürger. "Es gab wütende Proteste, als ich das 1989 veröffentlicht habe. Die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung, einschließlich ihrer Repräsentanten im Stadtrat, fand, man solle das Thema ruhen lassen. Nichtbefassung sei die adäquate Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Auch die Vertreter der katholischen Kirche dachten so." Zwanzig Jahre lang hat Wette dann alle verfügbaren Informationen zusammengetragen, und jetzt ist das Buch erschienen. Wiederum ist das Echo am Ort verheerend. "Ich habe unflätige Anrufe und anonyme Briefe bekommen, die dem nicht nachstehen, was sich 1989/90 abgespielt hat."

Das Ethos des Historikers

Die jüngere Generation indes bricht das Schweigen. Am örtlichen Gymnasium gibt es ein Geschichtsprojekt. Zeitzeugen werden eingeladen. Ausstellungen konzipiert. Überlebende aus Litauen sind gekommen. Die Diskussion ist sachlicher geworden. Wolfram Wette, der Waldkirch mit seinen Forschungen so verstört hat, sitzt zu Hause an seinem Panoramafenster und sagt: "Ich denke, es gibt ein Ethos des Historikers, eine Pflicht zur historischen Aufklärung. Und für mich gilt diese Pflicht gerade auch dann, wenn ich weiß, dass andere wegschauen."

Autorin: Cornelia Rabitz

Redaktion: Silke Wünsch

Informationen zum Buch:

Wolfram Wette: „Karl Jäger, Mörder der litauischen Juden“. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano.

Fischer Taschenbuch-Verlag, 284 Seiten, ISBN 978-3-596-19064-5, 9,99 Euro