Die deutsche Sehnsucht nach Harmonie
16. Oktober 2013"Bilder der Sondierung gibt es keine. Aber die Speisekarte dringt heraus: Kartoffelsuppe und Pflaumenkuchen." So berichtete vor ein paar Tagen eine Fernsehreporterin von den Gesprächen zwischen SPD und CDU/CSU. "Sondierungsgespräche führen zu Koalitionsgesprächen - oder auch nicht", sprach hinterher ein sehr entspannter CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt in die Kameras. Man sah ihm an, dass er sich ziemlich sicher ist, dass sich Unionsparteien und Sozialdemokraten am Ende einigen werden.
Auch beim zweiten schwarz-roten Sondierungstreffen gab es zwar noch kein Ergebnis, aber doch immerhin "intensive Gespräche". Man habe ein "Gespür" für die andere Seite entwickeln können, wie Hermann Gröhe, der Generalsekretär der CDU, es ausdrückte. Und das wenige Tage nach dem Wahlkampf, den die Parteien gegeneinander geführt haben. Selbst mit den Grünen, vor nicht allzu langer Zeit absolutes Feindbild vieler Unionspolitiker, trafen sich CDU und CSU zu Gesprächen. Die sind zwar am Ende gescheitert, aber dennoch betonten alle Beteiligten, wie überraschend angenehm die Atmosphäre gewesen sei. Und der Rest der Welt blickt verwundert nach Deutschland.
Koalitionspoker statt großer Polit-Schlachten
In Italien oder Griechenland bangt nach Wahlen regelmäßig der ganze Rest Europas, dass hoffentlich irgendwann eine stabile Regierung zustande kommt, die länger als ein paar Wochen hält. In der Ukraine, Russland oder Südkorea kommt es im Parlament sogar hin und wieder zu Schlägereien.
Und in Deutschland? Sondiert man. In aller Ruhe und Gelassenheit. Politische Beobachter gehen davon aus, dass am Ende eine Große Koalition herauskommt, ein Bündnis aus CDU/CSU und SPD. Mit einem Koalitionsvertrag, von dem jede Seite behaupten kann, sie habe sich in den wichtigen Punkten durchgesetzt. Und die deutsche Öffentlichkeit schaut zu mit dem wohligen Gefühl, dass die Politiker es schon richten werden.
Echte Streitthemen muss man ohnehin mit der Lupe suchen: Die Energiewende wollen im Prinzip alle Parteien, mehr Gerechtigkeit sowieso. Die CSU will das umstrittene Betreuungsgeld behalten und eine Pkw-Maut für Ausländer einführen, die SPD pocht auf den Mindestlohn, um ein mögliches Verhandlungsergebnis hinterher ihren Parteimitgliedern schmackhaft zu machen. Nach unüberwindbaren Hindernissen klingt das nicht. Es scheint nicht die Zeit der großen politischen Schlachten zu sein, stattdessen arbeiten die Verhandlungsführer schon fleißig an den Details.
Koalitionen mit langer Tradition
Die deutsche Fähigkeit zum Ausgleich hat für den Historiker Edgar Wolfrum von der Universität Heidelberg eine lange Tradition: "Durch die sehr wechselvolle deutsche Geschichte hat sich eine Sehnsucht nach Sicherheit und Kompromiss herausgebildet. Und das führt zu einer ganz speziellen politischen Kultur." Die zeige sich auch bei der deutschen Sozialpartnerschaft, die darauf beruht, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften sich einigen, so Wolfrum im DW-Interview.
Das hat dazu geführt, dass die Bundesrepublik seit ihrer Gründung fast immer von Koalitionen regiert wurde: Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) holte von 1953 bis 1955 sogar drei kleinere Parteien in die Regierung, obwohl seine Partei eigentlich auch alleine eine Mehrheit hatte. Lange galten die konservative CDU/CSU und die liberale FDP als beinahe "natürliche" Bündnispartner, aber auch mit der SPD haben die Liberalen schon gemeinsam regiert. Es gab eine rot-grüne und bisher zwei Große Koalitionen. Bündnisse, die fast alle bis zu Ende der Wahlperiode hielten und erfolgreich waren.
Tiefe deutsche Sehnsucht nach Sicherheit
"Die deutsche Mentalität unterscheidet sich da von der in anderen Ländern", meint auch Buchautor und Psychologe Stephan Grünewald vom Kölner Rheingold-Institut für Marktforschung. "Uns fehlt eine feste nationale Identität, das macht uns unruhig." Daher rühre das Bedürfnis nach Stabilität und Berechenbarkeit.
Es ist also kein Zufall, dass Politiker lieber kuscheln, statt sich ernsthaft zu streiten: Sie wissen, dass eine Mehrheit der Deutschen das so will. Schon vor der Wahl sprachen sich in Umfragen die Meisten für eine Große Koalition aus. Im Moment fänden laut ARD-Deutschlandtrend sogar 66 Prozent ein Bündnis zwischen den beiden größten Parteien CDU/CSU und SPD "sehr gut". Letztlich ein Zeichen dafür, dass viele Deutsche Angst vor der Zukunft haben, meint Psychologe Grünewald. "Darum hoffen sie, dass sie die Zustände so, wie sie sind, möglichst lange konservieren können." Genau das verspricht eine Große Koalition - und Angela Merkel: Die Kanzlerin erwecke den Anschein eines "nationalen Schlichtungs-, Rettungs- und Vermittlungsengels", sagt Grünewald.
Auf dem Weg in die Kuscheldemokratie?
Wer in Deutschland politisch auf Konfrontationskurs geht, wird oft gleich von zwei Seiten abgestraft: von den Medien, die bei den leisesten Misstönen gleich von "Krise" und "Zerwürfnis" sprechen. Und schließlich auch vom Wähler, der Parteienstreit offenbar überhaupt nicht mag.
Das sorgt zwar für politische Stabilität und eine effektivere Politik als in vielen anderen Ländern. Dennoch macht sich der Historiker Edgar Wolfrum Sorgen über die fehlende deutsche Konfliktfähigkeit. "Konsens und Kompromiss dürfen in einer Demokratie eigentlich immer erst am Schluss stehen und nicht am Anfang." Er warnt davor, das deutsche Konsensmodell über die Maßen zu rühmen: "Produktiver Streit gehört zur Demokratie, davon lebt sie."
Immerhin: Im zweiten Sondierungsgespräch zwischen Unionsparteien und Sozialdemokraten soll es hinter verschlossenen Türen zu lautstarken Auseinandersetzungen gekommen sein. Und es gab auch keine Kartoffelsuppe - sondern Frikadellen und Würstchen. Na dann.