1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kaschmirs abgehängte Wirtschaft

8. August 2019

Die Arbeitslosigkeit der indischen Region ist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, Wirtschaft und Tourismus leiden unter häufigen Unruhen. Für Investoren ist entscheidend, wie sich die Sicherheitslage entwickelt.

https://p.dw.com/p/3NYd6
Ausflugsboote auf dem Dal-See bei Srinagar in Kaschmir warten auf Kundschaft
Ausflugsboote auf dem Dal-See in Srinagar warten auf KundschaftBild: Getty Images/AFP/T. Mustafa

Apfel- und Aprikosen-Plantagen, grüne Berghänge, kristallklare Gebirgsbäche und tiefblaue Seen - eigentlich hat Kaschmir alles, um ein weltweiter Touristenmagnet zu sein. Wären da nicht die immer wiederkehrenden Bilder von Straßenschlachten zwischen einheimischen Demonstranten und indischen Sicherheitskräften, die viele von einem Urlaub in der Region abhalten. Auch Investoren machen nicht nur einen Bogen um Kaschmir, weil sie dort kein Land besitzen dürfen, sondern weil die Sicherheitslage seit vielen Jahren so angespannt ist. Daran dürfte sich auch nach der Umwandlung der bisher teil-autonomen Region in ein von Neu-Delhi kontrolliertes Unionsterritorium nichts ändern.

Dass jetzt ein Run auf den Immobilienmarkt in der Region stattfinden wird, ist alles andere als wahrscheinlich. "Jammu und Kaschmir sind im Moment noch nicht einmal auf dem Radar von Immobilienunternehmen", sagt Samir Jasuja, Gründer und Geschäftsführer des Immobilienmarktforschers 'PropEquity' gegenüber der Deutschen Welle. "Es ist noch zu früh dafür, dass sich dort etwas auf dem Immobilienmarkt bewegt. Zuerst muss gewährleistet sein, dass es keine anti-indischen Aktivitäten geben wird." Jasuja glaubt, dass die Immobiliengesellschaften in den nächsten sechs bis zwölf Monaten erst einmal die weitere Entwicklung abwarten werden.

Dort, wo es bereits Investitionspläne im Tourismus-Bereich gibt, scheitern sie oft an der schlechten Infrastruktur, erklärt Nisar Ali, der frühere Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität von Kaschmir. Die Hochschule in Srinagar ist seit Tagen wegen der Kommunikationssperre der Regierung Modi nicht erreichbar.

"Die schlechte Stromversorgung verhindert den Fortschritt des Staates. Sie hält indische und lokale Investoren von einem Engagement ab", schrieb er in einem Gastkommentar für das indische Wirtschaftsportal "livemint" im April. "Es wurden zwar 55 neue Tourismus-Destinationen ausgewiesen, aber bisher ist dort wegen der herrschenden Stromknappheit noch nichts passiert", kritisiert Nisar Ali, der auch Mitglied in der Finanz-Kommission von Jammu und Kaschmir ist. Die Finanz-Kommission entschied bislang darüber mit, wie die Steuern der indischen Zentralregierung auf die einzelnen Bundesstaaten verteilt werden. Nach der Umwandlung des Staates Jammu und Kaschmir in zwei separate Unionsterritorien steht die Zukunft der Finanz-Kommission allerdings - wie vieles andere in der Region - völlig in den Sternen.

Die Altstadt von Srinagar im indischen Teil von Kaschmir
Die Altstadt von Srinagar im indischen Teil von Kaschmir Bild: picture-alliance/Design Pics/C. Caldicott

Landwirtschaft und Tourismus dominieren

Etwa 80 Prozent der Wirtschaft von Jammu und Kaschmir sind landwirtschaftlich geprägt. Hier werden neben Gerste und Weizen auch Reis, Mais, Obst und Safran angebaut. Die Gegend ist außerdem bekannt für ihr Kunsthandwerk, darunter Kaschmir-Teppiche, Holzschnitzereien, Wolle und Seide. Die aus dem Fell der Kaschmir-Ziege gewonnene Kaschmirwolle hat den Namen der Region auf der ganzen Welt bekannt gemacht. Doch mittlerweile kommt der größte Teil der Kaschmirwolle aus China und der Mongolei. Und der einst blühende Tourismus wurde vom schwelenden Konflikt zwischen muslimischen Separatisten und der indischen Zentralregierung schwer getroffen.

Nicht einmal die kleinsten Familienbetriebe hat der Konflikt verschont, so Nisar Ali: "Kleinst-Unternehmen sind genauso wie kleine und mittelgroße Firmen in einer schlechten Verfassung. Es gelangen kaum ausländische Direktinvestitionen in den Staat und Kaschmir und Jammu hat keine Sonderwirtschaftszone, die Investoren anlocken könnte", kritisiert der Wirtschaftsexperte. Neben der weit verbreiteten Korruption sei es vor allem die schlechte Sicherheitslage, die die wirtschaftliche Entwicklung der Region verhindern.

Daran wird wohl auch der neue Status eines Unionsterritoriums nichts ändern. "Das sind Dinge, die Investoren abschrecken", unterstreicht Sushant Sareen vom Think Tank 'Observer Research Foundation' in Neu-Delhi gegenüber der DW. "Es wird erwartet, dass es große Investitionen geben wird, die ihren Weg in das Territorium finden. Aber ich denke, dass Investitionen ziemlich stark von der Sicherheitslage im Staat abhängen werden." 

Nach Berechnungen des Centre for Monitoring Indian Economy (CMIE) ist die Arbeitslosenquote nirgendwo in Indien so hoch wie in Jammu und Kaschmir. Auch wenn wegen des riesigen informellen Arbeitsmarktes und der weit verbreiteten Unterbeschäftigung statistische Werte in Indien mit Vorsicht zu genießen sind, ist nach Angaben des CMIE die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie im indischen Durchschnitt.

Die Ausgaben des Bundesstaates für die Entwicklung seiner Industrie liegen nach CMIE-Berechnungen mit 0,09 Prozent der Wirtschaftsleistung von Jammu und Kaschmir im homöopathischen Bereich.

Chancen sehen viele Beobachter deshalb vor allem im traditionellen Kunsthandwerk. Sharad Kumar Saraf ist die Präsidentin der Federation of Indian Export Organizations. Im Gespräch mit der DW gibt sie sich "sehr optimistisch", dass künftig mehr kunsthandwerkliche Produkte aus Kaschmir exportiert werden können. "Jetzt, nachdem die Regierung Exporteuren von außerhalb Jammu und Kaschmir erlaubt hat, Investitionen zu tätigen, öffnen sich die Schleusen." 

Grenzkonflikt Indien China Ladakh
Ein indischer Soldat überwacht die Höhenstraße von Srinagar nach Leh, die das mehrheitlich muslimische Kaschmir mit der buddhistisch geprägten Region Ladakh verbindetBild: Rouf Bhat/Afp/Getty Images

Schlechte Wirtschaftslage verschärft sich

Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer von Kaschmir hatten bereits am Wochenende Berichte über bevorstehende Maßnahmen der indischen Bundesregierung zu Panik, Hamsterkäufen, einem Ansturm auf Bankautomaten und Tankstellen geführt. In Teilen der Region sei an den Tankstellen bereits am vergangenen Wochenende kein Treibstoff mehr zu bekommen gewesen. Nicht nur Touristen und hinduistische Pilger waren in der vergangenen Woche aufgefordert worden, das Tal zu verlassen. Auch viele Arbeitskräfte haben aus Angst vor Unruhen den Staat verlassen und ihren Unternehmen sowie zahlreichen Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten den Rücken gekehrt, berichtete der Präsident der Industrie- und Handelskammer von Kaschmir (KCCI), Sheikh Ashiq. 

"Der Politikwechsel war ab Februar 2019 offensichtlich, und seitdem leidet das Volk von Kaschmir unter den Folgen. Tourismus, Gartenbau und andere Bereiche unserer Wirtschaft haben enorme Verluste erlitten, seit die Zentralregierung die Bewegungsfreiheit von Zivilisten auf der Fernstraße zwischen Srinagar und Jammu beschränkt hat. Sie hat das Rückgrat des Tourismussektors gebrochen und der Wirtschaft des Staates irreversible Schäden zugefügt", hatte Sheikh Ashiq auf einer Pressekonferenz am Sonntag beklagt, kurz bevor die Kommunikationswege zwischen dem Bundesstaat und dem Rest der Welt weitgehend gekappt wurden.

Ganz gleich, wie es in Kaschmir jetzt weiter geht - die Menschen in der Region brauchen vor allem wirtschaftlich eine Perspektive, betont Nisar Ali von der Finanz-Kommission: "Wenn wir in der Lage sind, das Problem der Arbeitslosigkeit im Staat zu lösen, werden 95 Prozent der Probleme in Kaschmir gelöst sein."

Thomas Kohlmann
Thomas Kohlmann Redakteur mit Blick auf globale Finanzmärkte, Welthandel und aufstrebende Volkswirtschaften.