Kaum Rechte für Afghanistans Frauen
20. April 2015"Ich habe mich bereitwillig entschieden, meine Beschwerde zurückzuziehen", sagt B., eine 25-jährige Frau aus dem Nordosten Afghanistans, in einem neuen Bericht der Vereinten Nationen. Eigentlich hatte sie gegen ihren Mann Klage wegen Körperverletzung eingereicht - es sich dann aber doch anders überlegt. "Es ist besser, zu meiner Familie zu stehen. Meine Kinder gehen noch zur Schule. Wenn mein Mann strafrechtlich verfolgt und eingesperrt wird, wer unterstützt dann mich und meine Kinder?"
Ähnlich wie B. nutzen nur wenige afghanische Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, die Mittel des Rechtsstaates. Das zeigt der neue UN-Bericht: Nur fünf Prozent der 110 untersuchten Fälle von Gewalt wurden durch den Rechtsstaat gelöst, heißt es in dem Report, den die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte am 19. April veröffentlicht haben.
Ein Grund dafür sei, dass die bestehenden rechtlichen Vorgaben sowie der Prozess der Rechtsprechung in Afghanistan nur "begrenzte Möglichkeiten" bietet. Die meisten untersuchten Fälle - überwiegend solche von Körperverletzung, Missbrauch, Demütigung und Einschüchterung - wurden dementsprechend nicht vor Gericht gebracht, sondern in ein Schlichtungsverfahren. Hierbei soll ein Streit gelöst werden, indem alle betroffenen Parteien sich einigen und miteinander aussöhnen.
Statt strafrechtlicher Verfolgung forderten die meisten Frauen laut UN-Bericht deshalb eher zivilrechtliche Lösungen: die Scheidung, das Sorgerecht für die Kinder oder ein Leben in einer sicheren Umgebung.
"Es gibt keine Alternative"
Dass Frauen sich für die Schlichtung entscheiden, wird laut UNAMA durch verschiedene Faktoren beeinflusst: Zum einen spielen vermeintliche Unzulänglichkeiten des Justizsystems wie etwa Korruption, Machtmissbrauch oder der Mangel an Professionalität eine Rolle. Auch vollziehen sich Schlichtungen sehr viel schneller. Zum anderen ist aber laut Analysten vor allem der kulturelle und familiäre Druck relevant dafür, dass Überlebende von Gewalt keine Schritte gegen ihre Peiniger einleiten.
"Ich gehe zurück zu ihm, weil es keine Alternative gibt. Wenn ich Geld hätte und jemanden, der auf meine Kinder aufpasst, würde ich meine Klage niemals zurückziehen. Ich wollte sehen, dass er bestraft wird", sagt etwa die 35-jährige R. in dem UN-Bericht. Zu groß ist die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen, zu schwach der Schutz ihres Eigentums: Eine Frau, die zum Beispiel bei den Behörden Klage wegen Gewalt zuhause einreicht und daraufhin ausziehen muss aus dem Haus, das meist dem Ehemann gehört, steht oft mit nichts da.
Ein Gericht der Willkür
Schon 2014 hatte ein Dokument des United States Institute of Peace (USIP) aufgezeigt: Wer Missbrauch meldete, war anschließend sozial gebrandmarkt. "In einigen afghanischen Gemeinschaften halten soziale Tabus Männer und Frauen davon ab, Hilfe von Staat oder Nichtregierungsorganisationen zu suchen", sagte Erica Gaston, eine der Autorinnen des USIP-Berichts. "Frauen behandeln ihre Rechtsanliegen vorzugsweise innerhalb der Familie oder Gemeinschaft. Aber selbst da hindern eine Reihe normativer, mittelbarer und praktischer Schranken die Frauen daran, Gerechtigkeit zu suchen oder zu erfahren."
Üblicherweise sitzen in Schlichtungsräten die Dorfältesten oder Mitglieder der betroffenen Familien, die dann gemeinsam nach einer Lösung suchen, die den traditionellen Gesetzen entspricht. Das kritisiert auch der UN-Bericht: Da es keinen standardisierten Ansatz und keine Kontrollmechanismen gibt, würde die Schlichtung von "einer Vielzahl Akteure" mit "verschiedensten und willkürlichen Methoden" durchgeführt.
In mindestens sechs der von den UN untersuchten Fälle wurden die Klagen der Frauen von der Schlichtung ausgeschlossen. In mindestens elf Fällen wurde die Entscheidung, den Konflikt im Schlichtungsverfahren zu lösen statt durch strafrechtliche Maßnahmen, den Frauen aufgezwungen. Und in mindestens 13 Fällen hielten sich die Täter nicht an die Vereinbarungen, die in der Schlichtung erzielt wurden. Erst als sich die Gewalt wiederholte, entschlossen sich die Frauen, in Frauenhäuser zu flüchten, Klage vor Gericht bzw. die Scheidung einzureichen.
Schlichtung kontrollieren
Angesichts dieser Beobachtungen betont Ivan Šimonović, Generalsekretär-Assistent für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, dass Schlichtungsverfahren gestärkt werden müssten, um sie "einheitlicher und mit einem höheren Standard zu versehen". Auch ihre Durchführung müsse sehr genau überwacht werden. Darüber hinaus drängen die Vereinten Nationen die afghanische Regierung, rechtliche, institutionelle und strategische Reformen zu verabschieden, um Frauen besser vor Gewalt zu schützen.
"Da der Bedarf nach Schlichtungsverfahren in Afghanistan wächst, sollte die Regierung sicherstellen, dass diese Praktiken die Rechte der Opfer vollständig schützt", fordert UNAMA-Chef Nicholas Haysom. Größere Gewalttaten an Frauen sollten seiner Ansicht nach dennoch nicht in einer Schlichtung gelöst, sondern strafrechtlich verfolgt und im Einklang mit den afghanischen Gesetzen und den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen des Landes gerichtlich entschieden werden.
Schwache Rechtsstaatlichkeit, schwache Frauen
Zwar haben die Rechte der Frauen in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2002 Analysten zufolge bemerkenswerte Fortschritte gemacht - wenn es jedoch um Fragen der Gerechtigkeit geht und den Möglichkeiten, Entschädigung zu erhalten, gibt es noch einige Hindernisse.
"Die Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan ist noch sehr schwach", sagt auch Sima Samar, Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan. Bestes Beispiel dafür sei der Lynchmord an der 27-jährigen Farchunda Mitte März. Der jungen Frau war fälschlicherweise vorgeworfen worden, den Koran verbrannt zu haben - daraufhin war sie von einem Mob zu Tode geprügelt, verbrannt und ihre Leiche in einen Fluss geworfen worden. Mehrere Polizisten sollen dabei zugesehen und nicht eingegriffen haben.