Keine Hoffnung für Gaza?
24. September 2014"Diesmal ist alles anders", sagt Sara Roy. Diesmal sei der Gazastreifen nicht wieder aufzubauen, die Wunden des letzten Krieges seien vielleicht gar nicht mehr zu heilen. Für die 1,8 Millionen Einwohner des schmalen Küstengebiets gebe es nach der israelischen Militäroffensive "Protective Edge" des vergangenen Sommers keine Hoffnung auf eine baldige Besserung ihrer Lage. Darum habe zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ein wahrer Exodus eingesetzt. Hunderte Palästinenser seien bereits aus dem Gazastreifen geflohen. Sie würden durch Tunnel unter der Grenze nach Ägypten geschmuggelt und dann mit Schiffen über das Mittelmeer. "Die Menschen laufen weg, sie fliehen vor den untragbaren Zuständen in Gaza", so die Wissenschaftlerin aus Boston.
Erst in der vergangenen Woche sank ein Schiff vor Malta mit 500 Menschen an Bord, viele von ihnen Palästinenser aus Gaza. "Das hat es zuvor noch nie gegeben", betont Roy. "Selbst in den schlimmsten Zeiten dachten die Menschen nicht daran, den Gazastreifen zu verlassen." Jetzt aber gingen Palästinenser aus allen Schichten und allen politischen Lagern. Selbst Angehörige der Hamas oder des Islamischen Dschihad schickten ihre Kinder ins Ausland, um ihnen dort eine Zukunft zu ermöglichen.
Die Zerstörung der Mittelschicht
Sara Roy ist Wissenschaftlerin am renommierten Center for Middle East Studies an der Harvard University in Boston. Sie kennt den Gazastreifen wie sonst kaum jemand von außen. Seit mehr als 30 Jahren befasst sie sich mit Wirtschaft und Gesellschaft der palästinensischen Exklave am Mittelmeer. Sie hat zahllose Artikel und mehrere Bücher dazu verfasst, darunter ein Standardwerk zur Wirtschaft des Gazastreifens und ein Buch über die Hamas. Auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung ist sie nach Berlin gekommen, um an einer Podiumsdiskussion über die Lage in Gaza teilzunehmen. Doch ihre vorgesehenen Gesprächspartner, Issam Younis vom Mezan-Center für Menschenrechte und die Bloggerin Asmaa Al-Ghoul, haben es nicht nach Berlin geschafft. Sie konnten den Gazastreifen nicht verlassen, denn Ägypten hatte mal wieder die Grenze zugemacht.
Sara Roy selbst war zuletzt im Mai in Gaza, wenige Wochen vor Beginn der israelischen Militäroffensive. Schon damals sei die Verzweiflung deutlich spürbar gewesen, berichtet sie. Nach fast acht Jahren der Blockade sei die Wirtschaft auf der Talsohle angekommen, die Arbeitslosigkeit lag bei rund 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei mehr als 60 Prozent. Der Krieg habe die Lage noch einmal verschlimmert. Nun liege die Arbeitslosigkeit Schätzungen zufolge schon bei über 50 Prozent. Mindestens 175 Fabriken seien während der Kämpfe zerstört worden, darunter mittelständische Unternehmen wie die einzige Asphaltproduktion Gazas, die einzige Getreidemühle und eine Keksfabrik.
Die Unternehmer, die Tausenden von Menschen Arbeit gegeben und damit Zehntausenden Menschen das Überleben gesichert hätten, seien durch die Zerstörung ihrer Betriebe und ihrer Wohnhäuser inzwischen selbst vollkommen verarmt und auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Die Mittelschicht ist weitgehend vernichtet worden", so Roy. Dies habe der Wirtschaft des Gazastreifens das Rückgrat gebrochen. Der Krieg habe die Klassenunterschiede beseitigt und die Menschen gleich gemacht, jedoch auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner, der Armut. Nach dem Krieg gebe es nur noch sehr wenige wohlhabende Menschen im Gazastreifen. Das einzigartige gesellschaftliche Netzwerk, das die mittellose Bevölkerung wirtschaftlich und gesellschaftlich über Wasser gehalten habe, sei zerrissen.
Was kostet der Wiederaufbau?
Nach Schätzung der palästinensischen Autonomiebehörde wird der Wiederaufbau des Gazastreifens mindestens 7,8 Milliarden Dollar kosten. Ganze Stadtviertel müssen neu errichtet werden, die Infrastruktur, die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung, das Kraftwerk und die Stromleitungen müssen wiederhergestellt werden. Sara Roy hält diese Summe für viel zu niedrig. Sie bezweifelt, ob der Gazastreifen überhaupt wiederaufgebaut werden kann. "Die Frage ist doch: was soll wiederaufgebaut werden? Sollen nur die Schäden von 2014 behoben werden oder auch die der Militäroperationen aus den Jahren 2000, 2003, 2005, 2006 und so weiter?" Bis heute seien die Spuren der Operation "Gegossenes Blei" der Jahreswende 2008/2009 noch nicht beseitigt worden, so die Forscherin. Die Zerstörungen des letzten Krieges hätten einen ohnehin schon völlig ausgemergelten Gazastreifen mit einer ökonomisch und physisch geschwächten Bevölkerung getroffen.
Ihrer Meinung nach könne es so jedenfalls nicht weitergehen, dass Israel in immer wieder kehrenden Offensiven die Infrastruktur zerstöre und die Staatengemeinschaft danach den Gazastreifen wieder aufbaue. Auch die Bundesregierung sei gefragt. "Deutschland und die EU müssen sich diese Frage stellen: Wollen wir weiterhin ein Teil des Problems sein und einer der Gründe, warum es mit dieser Region abwärts geht? Oder wollen wir anfangen, ein Teil der Lösung zu sein?" Die internationale Staatengemeinschaft müsse auf eine politische Lösung des Nahostkonflikts drängen, so Roy. Dazu gehöre die Aufhebung der Blockade, denn nur wenn Personen und Waren sich frei bewegen könnten, habe der Gazastreifen eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen.
"Die Palästinenser sind zu einem humanitären Problem geworden", sagt die Wissenschaftlerin. Die Mehrheit der Bevölkerung sei auf Lebensmittelhilfe und Almosen angewiesen. 450.000 Menschen hätten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, mindestens 370.000 Kinder seien schwer traumatisiert. Diese Probleme seien mit weiteren Finanzspritzen, mit Geberkonferenzen und Wiederaufbauhilfe nicht zu lösen, solange die Frage des Gazastreifens nicht politisch gelöst sei. "Die Menschen in Gaza brauchen keine humanitäre Hilfe, sie brauchen ihre Freiheit."