"Kein menschenwürdiges Leben für Kinder"
16. Oktober 2018Deutsche Welle: Es gibt keine genauen Zahlen über die Zahl der minderjährigen Rückkehrer aus Europa nach Afghanistan. Wie schwierig war es, die Kinder aufzuspüren, die sie für ihren Bericht interviewt haben?
Meike Riebau: Das war tatsächlich sehr schwierig. Wir sprechen ja auch da immer wieder von unsichtbaren Kindern. Die Kinder werden zum einen stigmatisiert. Das heißt, viele geben sich gar nicht als Rückkehrer in ihrem Umfeld zu erkennen. Mädchen waren zudem aus kulturellen Gründen noch mal schwieriger erreichbar. Wir haben mit Partnern vor Ort zusammengearbeitet und uns von dort dann weitergehangelt. Insgesamt war die Suche aber eine der größten Herausforderungen. Das ist jetzt ein erster Schritt - auf keinen Fall eine abschließende quantitative Studie. Wir sehen dann aber auch die Regierungen an der Reihe. Auf der Basis dieser Erkenntnisse dann weitere Schritte zu tätigen.
Sie haben in ihrem Bericht "Rückkehr ins Ungewisse" nun mit 57 Rückkehrern Interviews geführt. Welche Geschichte hat sie besonders berührt?
Ich fand die Geschichte von den Kindern, die auf der Straße nicht erzählen dürfen, dass sie in Norwegen waren und nicht Norwegisch sprechen dürfen ganz schlimm. Das klingt vielleicht harmlos, aber das sind Kinder. Die haben noch nicht so viel Geschichte, und das hat ganz viel mit ihrem Selbstverständnis und ihrer Identität zu tun. Dann ist da auch die Geschichte von dem Jugendlichen, der tatsächlich direkt am ersten Abend nach seiner Ankunft in Kabul mitbekommen hat, dass da ein Terroranschlag auf das Hotel Intercontinental stattfand - das hat mich total erschüttert.
Das sind nun Ausschnitte von Schicksalen. Was sind die Geschichten, die bei vielen Kindern ähnlich verliefen?
Über die Hälfte der Kinder haben Nötigung und Gewalterfahrungen im Rückkehrprozess gemacht - also zum Zeitpunkt, wo diese Kinder ganz klar auch unter dem Schutzmandat der europäischen Staaten standen - da sind sie dann in Handschellen abgeführt und von Polizisten eskortiert wurden, ohne zu wissen, was eigentlich das Verbrechen ist, das sie begangen haben.
Ein Fünftel der Rückkehrer wurde in Afghanistan von extremen Gruppen versucht zu rekrutieren, um sie dann als Kindersoldaten Terroranschläge begehen zu lassen. Und da ist die Dunkelziffer höchstwahrscheinlich noch viel höher, weil wir logischerweise nur mit den Kindern sprechen konnten, bei denen es nicht geklappt hat mit der Anwerbung oder die zurückgekehrt sind.
Und dann ist da noch, dass es niemanden gibt, der sich mit den Folgen ihrer Geschichte beschäftigt: Ängste, Depressionen, Wut, Trauer - für diese Symptome gibt es niemanden, mit dem sie sprechen können. In Deutschland gibt es Beratungsstellen, aber in Afghanistan werden diese Angelegenheiten im erweiterten Familien-Netzwerk gelöst. Und wenn diese Kinder sich aber dort nicht vertrauensvoll hinwenden können, haben sie niemanden und sind allein.
Und die EU gibt ab Afghanistan komplett ihre Verantwortung auf?
Unsere Wahrnehmung aus Erzählungen ist tatsächlich, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Verantwortung dort für beendet erklären. Was wir aber als Antwort von EU und Regierungsstellen meistens bekommen haben, ist, dass es Vereinbarungen und Kooperationen-Agreements gibt. Wir hören aber von den Kollegen vor Ort und unserem afghanischen Büro, dass diese Vereinbarungen ganz einfach nicht gelebt werden. Es gibt sie in der Theorie, aber die Praxis sieht einfach ganz anders aus. Und das deckt sich mit den Erfahrungen, die die Kinder uns berichten.
Die Botschaft ihres Berichts an die EU-Mitgliedsstaaten und an Deutschland ist also: Afghanistan ist nicht sicher, schiebt keine Kinder dorthin ab?
Zur Klarstellung: Andere Länder schieben ab, aber Deutschland momentan nicht. Was es gibt, sind diese freiwilligen Rückkehrprogramme aus Deutschland. Die sind aber auch aus unserer Sicht etwas fragwürdig wegen der Struktur. Die funktioniert über finanzielle Anreize. Das heißt, Kinder bekommen umso mehr Geld, je früher sie sich im Asylverfahren entscheiden, zurückzugehen. Und das ist für Kinder, die unter einem großen Druck stehen einfach schwer, da eine ausgewogene Entscheidung zu treffen. Der andere Punkt ist, dass wir einfach sagen, Afghanistan ist nicht sicher. Die Kinder können dort kein menschenwürdiges Leben momentan führen, und solange sich das nicht ändert, darf niemand nach Afghanistan zurückkehren.
Meike Riebau ist Juristin - bei Save the Children Deutschland ist sie für Flucht und Migration zuständig und hat den aktuellen Bericht mitverfasst.
Das Interview führte Nicolas Martin