Kein Platz für Kinder
26. Juli 2004"Wenn es um Kinderbetreuung geht, dann ist Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein Entwicklungsland." Harsche Worte, wenn man bedenkt, dass sie von Renate Schmidt, der deutschen Familienministerin, kommen. Viele Eltern mit Kindern unter drei Jahren kämpfen regelrecht um einen Platz in einer Kindertagesstätte (Kita). Oder sie sind gezwungen, auf deutlich teurere private Angebote zurückzugreifen.
Jetzt wollen Ministerin Schmidt und das Bundeskabinett die Situation mit Sonderzahlungen verbessern. Sie genehmigten 1,5 Millionen Euro für die Einrichtung von 200.000 zusätzlichen Kindertagesstätten bis zum Jahr 2010. Für viele greift diese Maßnahme zu kurz, unabhängig von der politischen Einstellung. Auch viele Eltern sind skeptisch.
Kluft zwischen Ost und West
Die Zahlen sprechen für sich: In Ost-Deutschland haben 36 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Platz in einer Kita, während es im Westen magere 2,7 Prozent sind. Die Situation im Osten ist aufgrund des kommunistischen Erbes besser. In der ehemaligen DDR ermunterte man Frauen zur Berufstätigkeit, das System förderte Einrichtungen für die Tagesbetreuung von Kleinkindern. Im Westen hingegen betrachtete man die Kinderbetreuung außerhalb der Familie mit Misstrauen. "Die Politik ermutigte Frauen, in den ersten Jahren zu Hause zu bleiben und die Kinderbetreuung selbst zu übernehmen", so Uta Meier, Professorin für Familienstudien an der Universität Gießen.
Konkurrierende Ansichten
Zur Überwindung dieser Kluft existieren verschiedene Ansätze: Die einen fordern öffentlich finanzierte Betreuung, um Müttern die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Andere bevorzugen eine Elternzeit, die es einem Elternteil erlaubt, den Nachwuchs zu Hause zu hüten, egal ob Mann oder Frau. Diese Idee wird auch vom Heidelberger Büro für Familienfragen und Soziale Sicherheit (HBF) propagiert. Kostas Petropulos, ein Sprecher der Organisation, äußerte Bedenken zum letzten Gesetzesentwurf. "Ich bin nicht sicher, dass öffentliche Einrichtungen die Qualität eines erziehenden Elternteils ersetzen können", sagt er. Es seien in diesem Gesetzesentwurf keine klaren Qualitätsstandards für die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen vorgesehen.
Die Heidelberger Familienorganisation hat ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie fünf Vorschläge zur Verbesserung der Kinderbetreuung macht. Unter anderem unterstützt sie das Modell eines monatlichen Zuschusses in Höhe von 1.000 Euro, das die Eltern wahlweise für externe Betreuungsangebote oder für Erziehungsurlaub verwenden können.
Für frauenfreundliche Organisationen ist dieser Ansatz lediglich ein neuer Weg zur Zementierung alter Geschlechterrollen, bei denen der Mann den Lebensunterhalt für die Familie verdient. Familienforscherin Meier fordert, die deutsche Familienpolitik solle endlich die neuen Verhältnisse in der Gesellschaft wahrnehmen, etwa die Tatsache, dass der Anteil der arbeitenden Frauen in den letzten acht Jahren von 59 auf 64,5 Prozent gestiegen sei. Deutschland benötige ein Gesetz, das allen Eltern ein Recht auf die Betreuung ihrer Kinder zusichert, und zwar in allen Altersstufen und unabhängig von den sozialen Verhältnissen. "Mit der Einrichtung von Kindertagesstätten können wir die Diskriminierung der Frauen beenden, die nach der Erziehungszeit wieder in den Beruf einsteigen wollen", sagt Meier.