"Kein Schritt über die Grenze ohne Philosophie"
11. August 2005
DW-WORLD: Herr Professor Hasinger, Sie erforschen unter anderem die kosmische Hintergrundstrahlung und haben damit die gesamte Geschichte des Universums im Blick. Was offenbart uns der Blick in die kosmische Kinderstube?
Günther G. Hasinger: Die Hintergrundstrahlung ist entstanden, als sich die extrem heiße "Ursuppe" des Kosmos langsam abgekühlt hat. 380.000 Jahre nach dem Urknall hatte der Kosmos ungefähr eine Temperatur von 3000 Grad. In diesem Zustand verbindet sich das genannte Plasma - also der Materiezustand, in dem die Elektronen und Protonen noch getrennt sind - zu Atomen. Das ist ein ganz wichtiger Zeitpunkt, denn dadurch wird plötzlich das Universum durchsichtig. Von da ab können wir das Universum sehen. Vorher war es ein dichter Nebel.
Durch die fortwährende Ausdehnung des Universums hat sich inzwischen die Temperatur ungefähr 1000-fach verringert: Sie liegt heute bei 3 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Die Hintergrundstrahlung ist absolut homogen in alle Richtungen. Überall ist sie bis auf ein 10.000stel Grad gleich. Aber es gibt ganz feine Unterschiede - so eine Art Gekrissel. Daraus sind unter anderem die Erde und wir Menschen entstanden.
Es gilt heute als gesicherte Erkenntnis, dass ein Urknall stattgefunden haben muss. Aber wer hat denn urgeknallt und warum?
Wenn wir uns den gesamten Energie-Gehalt des Kosmos anschauen - die Sterne, die Planeten und all das - dann haben wir festgestellt, dass die sichtbare Materie bei weitem nicht ausreicht, um die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos zu verstehen. Wir müssen unter anderem die so genannte "Dunkle Materie" und - das ist eine Erkenntnis aus den letzten fünf Jahren - die "Dunkle Energie" noch dazurechnen.
Das Bild des Urknalls ist eigentlich nicht ganz richtig – der Urknall findet im Prinzip immer noch statt. Denn der Kosmos dehnt sich immer weiter aus, die Galaxien fliegen auseinander. Der Grund ist dafür eben diese "Dunkle Energie", eine Art "abstoßende Kraft". "Dunkle Energie" gibt es auch dann, wenn nichts da ist. Das, was wir als Nichts bezeichnen beziehungsweise das, was vor dem Universum da war, ist trotzdem mit Energie gefüllt, die pausenlos im Nichts brodelt. Aus diesem Gebrodel – ähnlich wie in einem kochenden Kochtopf – steigt ab und zu eine Blase empor, aus der ein neues Universum werden könnte.
Aber von nichts kommt nichts, das sagt zumindest der Volksmund. Wie kann also im Universum aus nichts alles werden?
Wir müssen unser Bild vom Nichts ändern. Wenn man aus einem Raum alles entfernt, dann bleibt trotzdem immer noch etwas übrig: die Vakuumenergie. Die Vakuumenergie ist größer als die gesamte Energie, die im Universum steckt. Das heißt, das Universum hat sich aus dem Vakuum Energie "geliehen", in Materie verwandelt und Strukturen gebildet. Was davor war und was sich möglicherweise hinter unserem Universum abspielt, darüber können wir im Moment nur spekulieren, weil wir die Physik all dessen noch nicht verstehen.
Es gibt dazu verschiedene Spekulationen: Die eine ist, dass es so genannte "Multiversen" gibt – eben wie in dem Kochtopf, in dem pausenlos Blasen aufsteigen. Das würde bedeuten, dass unser Universum vielleicht nur eines unter vielen ist. Eine andere Theorie geht davon aus, dass unser Universum ein gigantisches Gebilde ist, das an den unterschiedlichsten Stellen ganz unterschiedlich aussieht: Vielleicht hat es ja schlauchartige Fortsätze an den Rändern, die sich ab und zu ausdehnen. Da gibt es vielleicht Stellen, die so weit draußen sind, dass wir sie nie erreichen. Und wo die physikalischen Gesetze ganz andere sind.
Wenn sich im Universum "Dunkle Energie" materialisieren kann: Nach welchen Prinzipien funktioniert das denn? Woher nehmen diese "Keimzellen" die sichtbare Materie, um zum Beispiel Himmelskörper zu bilden?
Zunächst einmal: Die physikalischen Gesetze, die das beschreiben sollen, sind noch nicht ganz fertig. Die Relativitätstheorie von Einstein beschreibt einen Aspekt des Universums und die Quantenmechanik beschreibt einen anderen, aber die beiden Theorien passen nicht zusammen.
In einem Vakuum passieren pausenlos kleine, so genannte Quantenfluktuationen. In der Quantenmechanik ist es erlaubt, für kurze Zeit Energie in Materie umzuwandeln und umgekehrt, ohne dass man etwas davon merkt. Das ist die "Heisenbergsche Unschärferelation". Diese so genannten "virtuellen Teilchen" entstehen, für einen winzigen Bruchteil der Zeit, aus Energie und können sich ebenso schnell wieder in Energie umwandeln.
Wie der Teilchen-Krimi weitergeht und wer die "Dunkle Energie" steuert, erfahren Sie auf Seite 2. Klicken Sie weiter!
Günther G. Hasinger: Es kann auch passieren, dass aus einem "virtuellen Teilchenpaar" plötzlich richtige Teilchen werden. Zum Beispiel könnte eins der beiden – das positive Teilchen oder das negative Teilchen – von einem "Schwarzen Loch" weggefangen werden. Dann würde dieses andere Teilchen übrig bleiben und plötzlich wäre aus dem Nichts ein richtiges Teilchen entstanden. Aufgrund der quantenmechanischen Eigenschaften des Zufalls und des Raum-Zeit-Gefüges entstehen pausenlos Teilchen. Wir sehen sie bloß nicht …
… weil sie zum Beispiel von einem "Schwarzen Loch" gefressen wurden?!
Nicht unbedingt. Denn selbst wenn ein "Schwarzes Loch" absolut im Vakuum, also im Nichts, ist, gibt es trotzdem drumherum Quantenfluktuation. Ein Partner des Doppelteilchens wird vielleicht vom "Schwarzen Loch" eingefangen, aber das andere Teilchen kann entweichen. Auf diese Weise kann ein "Schwarzes Loch" Energie abstrahlen, ohne dass es dafür Materie fressen muss. Das führt dazu, dass ein "Schwarzes Loch" ganz, ganz langsam immer weniger wird und sich am Ende seines Lebens selbst "zerstrahlt".
Die entwichene Strahlung – kann die sich wieder neu materialisieren?
Die Lichtteilchen schwirren im Universum herum, bis sie irgendwo wieder auftreffen. Aber die meisten Photonen treffen nirgendwo auf. Irgendwann wird sich das Universum exponentiell aufblähen - und absolut dunkel werden. Das Universum würde sich dann so weit verdünnen, dass die paar Lichtteilchen gegenüber der "Dunklen Energie" überhaupt nicht mehr auffallen würden. Das wäre dann vermutlich ein Zustand wie vor dem Urknall. Sollte die "Dunkle Energie" tatsächlich die Eigenschaften haben, die wir ihr im Moment zuordnen, wäre sie immer da – auch, wenn nichts mehr da ist.
Und wer oder was steuert die "Dunkle Energie"?
Jetzt kommen wir an die Stelle, wo die Philosophie oder die Religion beginnt. Die Frage ist: Wer steuert überhaupt die physikalischen Gesetze? Denn die physikalischen Gesetze müssen bereits da sein, bevor sie auf das Existierende angewandt werden können. In der Bibel steht: "Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser". Was so viel heißt wie: Der Geist Gottes – oder war es vielleicht doch eher die "Dunkle Energie"? – schwebt über dem Tohuwabohu, das vor der Schöpfung war.
Wann sind die Grenzen überschritten, jenseits derer man in der Naturwissenschaft nicht mehr wissen, sondern nur noch glauben kann? Wo liegen die Schranken der Erkenntnis?
Meiner Meinung nach werden die Grenzen immer weiter hinausgeschoben. Deswegen ist es auch schwierig, das mit dem Gottesbegriff zu verbinden. Denn mit zunehmender Erkenntnis würde auf diese Weise der Raum für Gott immer kleiner werden.
Früher saß Gott in den Wolken und hat bei Gewitter die Blitze geschleudert – bis man herausgefunden hat, das das die Elektrizität ist und nicht Gott. Heute gibt es anderes, was wir nicht verstehen. Zum Beispiel verstehen wir immer noch nicht, wie das Leben entstanden ist. Und wir wissen nicht, ob es Leben auf anderen Planeten gibt.
Also könnte man sagen: Das Leben, das wurde offensichtlich vom lieben Gott geschaffen. Allerdings vermute ich, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft wissen werden, wie "Leben" funktioniert. Und dann wäre dieser Raum für Gott auch nicht mehr da.
Überall an den Stellen, wo wir die "weißen Flecken" in der Landschaft der Erkenntnis bearbeiten, überschreiten wir Grenzen. Doch man muss eine Philosophie haben oder einen Glauben, um überhaupt den Schritt über die Grenze zu wagen.
Das Gespräch führte Ingun Arnold
Professor Dr. Günther Gustav Hasinger gehört zu den weltweit führenden Röntgenastronomen. Seit 2001 ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik in Garching. 2005 erhielt er den höchstdotierten deutschen Förderpreis: den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.