Athens Flüchtlingskrise
10. November 2010Neun von zehn illegalen Migranten kommen nach Angaben der europäischen Grenzkontrollbehörde FRONTEX über Griechenland in die EU. Viele von ihnen stammen aus Afghanistan, Iran, Irak oder aus ostafrikanischen Krisengebieten wie Somalia. In der EU angekommen geraten sie in ein Asylverfahren, das nicht funktioniert. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bezeichnet die Lage sogar als humanitäre Krise.
Einmal im Lande, müssen sie sich selbst zurechtfinden, wie Ashkan Ussefi. Er kam als regimekritischer politischer Aktivist aus dem Iran und hat es bis Athen geschafft. Dort verbringt er den Tag auf einer lauten und staubigen Straße vor dem Universitätsgebäude und ringt um die Aufmerksamkeit von Passanten: "Afshin Talebirad, Mandana Daneshi, Housein Nobari, Mohamad Porsamad, Mohsen Abdul Houseini, Ahmad Moradi", ruft er den Menschen zu.
Es sind die Namen von sechs iranischen Asylanten, die selbst nicht mehr für sich sprechen können. Aus Protest gegen die Untätigkeit der griechischen Asylbehörden haben sie sich am 14. Oktober die Lippen zugenäht. "Vielleicht könnt ihr uns jetzt hören. Ihr habt unsere Stimmen nicht gehört, vielleicht könnt ihr unsere verschlossenen Münder sehen. Das ist eine Schande für die griechische Regierung", sagt Ussefi.
Untätigkeit der Behörden verletzt Asylrecht
Die sechs Protestierenden gehören zu einer Gruppe von 44 Iranern, die in Griechenland Asyl suchen. Die meisten von ihnen haben ihre Asylanträge schon vor Jahren gestellt. Den Ausschlag für die jüngste Protestaktion gab aber eine Entscheidung der Asylbehörde, nur zweien von ihnen einen politischen Asylstatus zu gewähren.
Die anderen erhielten nur einen humanitär begründeten Duldungsstatus. Deshalb haben sie sich zum Hungerstreik entschlossen. Ussefi betont, dass ihnen im Iran die Todesstrafe droht: "Das sind politische Flüchtlinge. Sie sind nicht aus dem Iran gekommen, weil sie Jobs suchen, Hunger haben oder finanzielle Probleme. Es waren Journalisten, Lehrer und Studenten."
Eine von ihnen habe sich für Frauenrechte eingesetzt. Und ein Mann sei wegen seiner politischen Ansichten in Konflikt mit seiner Familie geraten. Dieser, so Ussefi, sei schon vor zwölf Jahren aus dem Iran geflohen: "Seitdem hat er keine Antwort, keine Rückmeldung, nichts von der Asylbehörde bekommen."
Es ist praktisch unmöglich, über den offiziellen Dienstweg Asyl in Griechenland zu erhalten. Mehr als 30.000 Anträge hat die Behörde im vergangenen Jahr bearbeitet. Aber nur elf Asylbewerber wurden in der ersten Instanz als politische Flüchtlinge anerkannt. Seit Juli 2009 können abgelehnte Asylbewerber auch kein Berufungsverfahren mehr anstrengen.
Ablehnung ohne Ansehen des Fluchtgrundes
Georgos Tsarbopoulos, der Leiter des UNHCR in Griechenland, beklagt, dass die Ablehnungen "fast automatisch" erfolgen. Die Situation der Betroffenen würde nicht wirklich geprüft. "Deshalb kommt man auf eine Ablehnungsquote von 99,5 Prozent, ohne dass die Sachbearbeiter überhaupt die Substanz des Antrags betrachten," sagt der UNHCR-Leiter.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ist in Griechenland die Polizei für die Bearbeitung der Asylanträge verantwortlich. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beklagt, dass Asylsuchende keine Chance in diesem Prozess haben, weil die geführten Interviews zu kurz sind. Es sei zu wenig Personal vorhanden und dieses sei nicht vernünftig ausgebildet.
Etwa 52.000 Asylanträge stehen noch zur Bearbeitung an. Ein Pressesprecher der griechischen Polizei erklärte, dass eine grundlegende Reform des Asylverfahrens in Vorbereitung sei, allerdings könne Griechenland mit der großen Anzahl von Flüchtlingen nicht allein klarkommen.
So habe Griechenland zwar nur elf Millionen Einwohner, müsste aber praktisch die gesamten Flüchtlinge, die in die EU mit ihren etwa 500 Millionen Einwohnern streben würden, aufnehmen. Damit bezog er sich auf die Regelung Dublin II, die besagt, dass Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen müssen, in das sie zuerst einreisen. Praktisch sei das für die meisten Griechenland.
Im Abschiebekreislauf von Dublin II
So auch für Azad, einen irakischen Kurden, der 2002 aus der Türkei nach Griechenland kam. Ihm gelang es sogar, bis nach Großbritannien zu gelangen, aber die britischen Behörden fanden durch die Europäische Fingerabdruckdatenbank EURODACS heraus, dass er über Griechenland eingereist war. Deshalb wurde er zurück nach Athen geschickt.
Die britischen Behörden hätten gewusst wie schwierig es in Griechenland sei, dennoch habe er keine Chance erhalten, einen Asylantrag zu stellen. "Sie wussten über alles hier in Griechenland Bescheid, dass ich arbeitslos bin, und wie schwierig die Situation hier ist. Als ich sie fragte, warum sie mich zurück schickten, sagten sie: 'Aber Griechenland hat gutes Wetter, Ja!' Das sagten sie."
Victoria Banti, Rechtsanwältin für Amnesty International, hat viele ähnliche Beschwerden gehört: "Die meisten, die aus anderen EU-Ländern zurückgeschickt wurden, haben falsche Versprechungen von den dortigen Behörden bekommen, zum Beispiel dass in Griechenland die Lage genauso sei wie in Deutschland oder Österreich - aber das stimmt gar nicht."
Azads Probleme begannen, als er in Athen Asyl beantragte. Er hatte sich bei der Ausländerpolizei unzählige Male vorgestellt, aber niemand war überhaupt bereit, seinen Asylantrag entgegenzunehmen. Die Sachbearbeiter und Polizisten hätten ihn einfach "ohne Respekt behandelt, wie einen Hund." Am Ende erhielt Azad zwar eine rosa Karte, die bescheinigt, dass er sich legal im Lande aufhält, aber anders als eine Anerkennung als politisch Verfolgter, hat er damit keinen Zugang zu Sozialhilfe oder Krankenversicherung.
Griechenland ist kein "sicheres Drittland" mehr
Mittlerweile haben Großbritannien, Belgien, die Niederlande und Norwegen anerkannt, dass Griechenland kein "sicheres Drittland" mehr für Asylbewerber ist. Deshalb akzeptieren diese Länder mittlerweile wieder Asylanträge von Menschen, die aus Griechenland eingereist sind. Andere schieben jedoch Flüchtlinge sofort nach Griechenland ab.
Nassim Lomani von einer Flüchtlingshilfsorganisation beklagt, dass viele Flüchtlinge sich durch Dublin II in einem "Migrationskreislauf" befinden. So gebe es in Athen Leute, die bereits sieben Mal Griechenland verlassen hätten, und immer wieder dorthin zurückgeschickt worden seien. Und zurück auf den Straßen Athens erwarte sie oft Gewalt.
Zwischen fünf und zehn von ihnen kommen jeden Tag in eine Poliklinik, die von der Hilfsorganisation Doctors of the World in Athen betrieben wird. Nikitas Kanakis Leitet diese NGO und erklärt, dass die Flüchtlinge häufig in Auseinandersetzungen verletzt werden, die zwischen Migrantengruppen ausbrechen. Auch häuften sich Übergriffe durch griechische Rechtsradikale. Dies habe zum Teil "Pogrom"-Charakter. "Es ändert sich. Die Täter wollen töten. Es ist etwas anderes, wenn es einfache Auseinandersetzungen zwischen Migranten und Einwohnern gibt - so etwas gibt es überall. Aber hier geht es um systematische Mordangriffe gegen Migranten. Sie wollen die Gegend von Migranten säubern", betont Kanakis.
Angst vor Mordanschlägen durch Rechtsextremisten
Eine Gruppe von 30 Palästinensern hat sich aus Furcht vor den Angriffen vor das Gebäude des UNHCR in einem Wohngebiet im Norden Athens geflüchtet. Dort campen sie, und wollen sich Gehör verschaffen. Mohammed Darysin und sein Freund Emad fürchten um ihr Leben: "Wir wissen nicht, wo wir hingehen sollen. In einigen Teilen Athens ist es so schlimm, wir könnten leicht getötet werden." Entlang der Straße liegen Botschaften, weiße Villen und sauber gemähte Rasen. Aber auch diese Nachbarschaft ist nicht sicher. "Sie haben uns sogar in diesem Camp schon angegriffen, mit Messern - hier vor dem Büro des UNHCR und bei Tageslicht," sagt Mohammed.
Der dürre 25-jährige Emad zieht sein Polo-Hemd hoch. An der linken Hüfte zeigt er eine tiefe Fleischwunde. Zehn Tage davor hatten die Täter ihn angegriffen. Die Wunde ist noch nicht verheilt. Zurück in seinem Zelt beschreibt er seinen Alltag: "Die Situation hier ist sehr schlecht, wir wohnen in Zelten, es ist nachts kalt es regnet oft. Wir haben keine Dusche und waschen uns mit kaltem Wasser."
Ob es sich gelohnt hat, Palästina in Richtung Europa zu verlassen, weiß Emad nicht. Er warte noch auf das Ergebnis. Noch hoffe er, am Ende als Mensch behandelt zu werden und wenigstens einige Rechte zu bekommen. Aber selbst wenn die griechische Regierung ihr Versprechen erfüllt und Anfang 2011 ein effizientes Asylverfahren einführt, warnt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dass es zwei bis drei Jahre dauern dürfte, die 52.000 offenen Fälle abzuarbeiten.
Autor: Marine Olivesi / Fabian Schmidt
Redaktion: Bernd Riegert