"Kein Signal der Stärke Erdogans"
17. April 2017Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat es geschafft: Eine knappe Mehrheit der türkischen Wähler sagte nach offiziellen Angaben "Ja" zur Einführung eines Präsidialsystems in ihrem Land. Dieses soll die Macht des Staatspräsidenten ab November 2019 ausweiten.
Für Türkei-Expertin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin ändert das Votum des türkischen Volkes für Erdogans Machtausbau an der faktischen Politik der vergangenen Jahre nicht viel. "Die Rechte, die er durch diesen Verfassungsentwurf bekommt, die übt Erdogan schon jetzt teilweise aus", so Gürbey. Seit der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 habe eine mal schleichende, mal brachiale "Entdemokratisierung" des Landes eingesetzt. Das Referendum sei in dieser Reihe nur der letzte von vielen Schritten, sagt die Politikwissenschaftlerin.
"Selbst mit Unterdrückung kein überzeugendes Ergebnis"
Für Josef Janning, Europa-Experte von der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR), zeigt das relativ knappe Ergebnis des "starken Mannes" Erdogan dessen eigentliche Schwäche. "Selbst mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, selbst mit der fast völligen Kontrolle der elektronischen Medien und mit der Dauerbefeuerung der Öffentlichkeit ist ein überzeugendes 'Ja' zu diesen Vorschlägen in der Türkei nicht zu bekommen", sagt Janning.
Das verdeutliche auch, wie zerrissen und polarisiert das Land inzwischen sei. Janning ist davon überzeugt, dass der Türkei eine Phase der Unsicherheit bevorsteht, in der sich das Erdogan-Lager bestätigt und die Gegner betrogen fühlten. Europas Politikern rät er, kühl die eigenen Interessen abzuwägen. Auch wenn sich die Türkei jetzt weiter denn je von einer EU-Beitrittsperspektive entfernt habe, sollten die Europäer "für jene Türkei, die die Türkei einmal sein wollte, die Option eines Beitritts offenhalten".
Auslandstürken in Großbritannien und den USA sagen "Nein"
Kristian Brakel, Analyst von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), hat die Community der Türken im Ausland im Blick. Der in Istanbul lebende Politikexperte zeigt sich verwundert, dass die türkischen Wähler im Ausland nur in zwei Ländern mehrheitlich "Nein" zu Erdogans Verfassungsreform gesagt hätten. "Die beiden Länder, wo das 'Nein' gewonnen hat, sind das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten." Es wäre schon sehr interessant zu wissen, was läuft dort anders als in den Staaten Kerneuropas, wo die teilweise harsche Rhetorik des Staatspräsidenten anscheinend verfangen habe, so Brakel.
Der Politikexperte, der auch für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung arbeitet, erwartet für den Bundestagswahlkampf, dass das Verhältnis zur Türkei ein Streitthema werden könnte. Mit Blick auf das jetzige Referendum, bei der eine deutliche Mehrheit der türkischen Wähler in Deutschland "Ja" zur Verfassungsreform gesagt hat, sagt Brakel: "Das zeigt natürlich, wer mobilisiert werden kann für solche Wahlen. Und da ist die AKP von Präsident Erdogan schon relativ gut aufgestellt, wesentlich besser in jedem Fall als die Opposition."
Deutsche Wirtschaft hofft auf Ruhe und Stabilität - vergebens?
Vertreter der deutschen Wirtschaft zeigten sich nach der Wahl hoffnungsvoll, dass mit dem "Ja" zur Verfassungsänderung bald wieder eine Phase der Ruhe und Stabilität beginnen könne. Die deutschen Unternehmen in der Türkei erwarteten keine negativen Auswirkungen des Referendums auf den bilateralen Handel, sagt Jan Nöther. "Das Ergebnis entspricht dem, was wir von der Wirtschaft zuvor erwartet haben", so das Vorstandsmitglied der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) mit Sitz in Istanbul.
An der in Deutschland viel gehörten Kritik, die Türkei drifte unter Erdogan in eine autokratische Herrschaft ab, will sich der Wirtschaftsvertreter nicht beteiligen. Er sehe zudem keine wirkliche Beschneidung des Parlaments, schließlich gebe es bei den bevorstehenden Parlamentswahlen im Jahr 2019 ja noch die Möglichkeit, die Machtfülle des Präsidenten zu begrenzen, so Nöther.
Außenpolitik-Experte Josef Janning bezeichnet eine solche Haltung als "naiv" und einigermaßen "kurzsichtig". Die Wirtschaft glaube stets, so Janning, hinter der nächsten Ecke liege eine bessere Zukunft. Im Falle der Türkei liege man da allerdings ziemlich falsch. "Das Referendum wird wahrscheinlich sogar Gewalt erzeugen, denn es gibt viele aufgeschobene und unterdrückte Konflikte, die sich anhand dieses Falls ausleben werden", so Janning. Eine Rückkehr zur Normalität, wie von der Wirtschaft erhofft, sei ausgeschlossen. Und ohne Normalität bleibe es eben weiter vor allem eines: unbequem. "Man wird mit der Türkei umgehen müssen, wie mit einem sperrigen, unbequemen, eigensinnigen Nachbarn, der nicht so will, wie wir das wollen, aber mit dem wir trotzdem in irgendeiner Weise zurechtkommen müssen."