Das Ende der Solidarität mit dem Osten
25. März 2012Mit sehnsüchtigem Blick stehen Caroline und Fabian vor dem Eingang des neuen Schwimmbads in Waltrop. Doch das Tor ist geschlossen, denn das winzige Bad ist nur für Schwimmvereine geöffnet. Eine andere Möglichkeit zum Baden gibt es für die Kinder in der 30.000-Einwohner-Stadt im Ruhrgebiet nicht. Das letzte öffentliche Hallenbad, das Luther-Bad, hat schon vor ein paar Jahren zugemacht. "Im Luther-Bad hatte ich auch Schwimmunterricht, und ich finde es blöd, dass wir jetzt kein Schwimmbad mehr haben. Hoffentlich wird das noch mal anders", sagt der elfjährige Fabian.
Doch daran glauben nur die Wenigsten in Waltrop, schließlich steckt die Gemeinde tief in den roten Zahlen. Im Haushalt der Stadt klafft ein Loch von rund 164 Millionen Euro - mehr als doppelt so viel wie das gesamte Budget eines Jahres. Bereits 2008 war die Bezirksregierung über die Finanzlage Waltrops so beunruhigt, dass sie einen Sparberater schickte, der gemeinsam mit der Bürgermeisterin Anne Heck-Guthe einen Sanierungsplan erstellte. "Wir wollten einen ausgeglichenen Haushalt hinbekommen, das heißt noch nicht Schuldentilgung, sondern erstmal keine Neuverschuldung. Das wollten wir durch Verkäufe erreichen, wir haben unsere Schwimmbäder geschlossen, wir verkaufen Sportstätten", sagt die Bürgermeisterin.
Kredite für den Osten
So wie der Stadt Waltrop geht es vielen Kommunen im Ruhrgebiet. Nach dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie, die einst den Reichtum in der Region begründet hatte, liegt die Arbeitslosenquote in manchen Kommunen bei knapp 20 Prozent – und ist damit fast drei Mal so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt. Die Städte schließen Theater, Jugendeinrichtungen, Schwimmbäder und wissen dennoch nicht, wie sie die Zinsen, geschweige denn die Schulden, bezahlen sollen. Die Ruhrgebiets-Städte Oberhausen und Dortmund haben mit jeweils fast zwei Milliarden Euro den höchsten Schuldenstand in Westdeutschland. "Wir wissen nicht mehr weiter", sagt Oberhausens Oberbürgermeister Klaus Wehling von der SPD. Gemeinsam mit mehreren Amtskollegen aus der Region schlägt Wehling deshalb jetzt Alarm und fordert ein Ende des "Solidarpakts" für die ostdeutschen Kommunen.
Im Rahmen des Solidarpakts sind die westdeutschen Städte und Gemeinden verpflichtet, jährlich rund zehn Milliarden Euro in den Osten zu überweisen, um die Lebensverhältnisse in der früheren DDR an die in Westdeutschland anzugleichen. Das Geld fließt vor allem in den Ausbau von Straßen und Schienen. Der Pakt wurde 1995 eingeführt. Als sich 2004 abzeichnete, dass die Wirtschaftsleistung im Osten noch lange nicht auf Westniveau angelangt war, einigte sich die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen auf eine Verlängerung bis 2019, mit einem Volumen von 156 Milliarden Euro. Geld, das viele Kommunen im Westen selbst dringend bräuchten, sagt Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann und bezeichnet den Solidarpakt als "absurdes System". Dortmund könne die 30 Millionen Euro, die die Stadt jährlich in den Pakt einzahlt, nur noch durch die Aufnahme von Krediten aufbringen. "Für uns ist der Pakt nicht 2019 beendet, wir werden noch jahrzehntelang die Kredite abbezahlen", klagt der Dortmunder Stadtdirektor. "Wir brauchen ein politisches Gespräch über die finanzielle Ausstattung von Städten und Gemeinden, auch des Ruhrgebietes. Viele Bäder sind schon geschlossen, Straßen werden nicht repariert. Wohin soll dieser Weg führen?"
Überschüsse im Osten
In der Tat sprechen die Zahlen für sich. Während viele westdeutschen Kommunen jedes Jahr mehr Schulden machen, sind die Gemeindekassen in Ostdeutschland gut gefüllt. Das Statistische Bundesamt ermittelte für 2010 ein Plus von insgesamt 393 Millionen Euro für die Haushalte ostdeutscher Kommunen. Die Stadt Jena im ostdeutschen Bundesland Thüringen kündigte vor kurzem sogar an, dass sie bis 2025 komplett schuldenfrei sein möchte. "Wir brauchen den Solidarpakt nicht", gibt Oberbürgermeister Albrecht Schröter offen zu. "Der Aufbau Ost hat bei uns sehr gut gegriffen", erklärt Kämmerer Götz Blankenburg. "Man hat hier einen starken wissenschaftlichen Fokus mit der Ansiedlung der Friedrich-Schiller-Universität gesetzt, außerdem gibt es inzwischen viele mittelständische Unternehmen, die mit ihren Steuern die Stadtkasse ganz gut füllen."
Absage aus Berlin
So gut wie Jena geht es allerdings längst nicht allen Kommunen im Osten. Entsprechend empört reagieren die Ministerpräsidenten mehrerer ostdeutscher Bundesländer auf die Kampagne der verschuldeten Städte im Westen. "Die Arbeitslosigkeit ist hier im Schnitt noch immer doppelt so hoch wie im Westen, und die Steuerkraft liegt erst bei 55 Prozent des Westniveaus. Im Geld Schwimmen sieht anders aus", sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Sein Amtskollege aus Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, betont, es gebe "keinen Grund, am Solidarpakt zu rütteln."
Dass die Ruhrgebietsstädte mit ihrer Initiative Erfolg haben werden, ist unwahrscheinlich. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble von der christdemokratischen Regierungspartei CDU erteilt der Forderung nach einem frühzeitigen Ende des Solidarpakts eine Absage. "Der Pakt läuft bis 2019", sagt Schäuble, um die Debatte zu beenden. Dass sich für eine Gesetzesänderung eine Mehrheit im Bundestag findet, ist unwahrscheinlich. Denn auch der Vorsitzende der Sozialdemokraten, die derzeit die größte Oppositionspartei auf Bundesebene sind, lehnt eine Aufkündigung des Paktes ab. "Es wäre falsch, Ost gegen West auszuspielen", meint Sigmar Gabriel.